Donnerstag, 22. Februar 2018

Urteile gerecht oder gar nicht

Einer der wichtigen psychologischen Phänomene des Menschen ist das schwache und schnelle Urteil. Dies ist die geistig primitivste Haltung des Menschen, welche wir auch im Traum erleben. Wenn dem Menschen im Schlaf etwas geschieht, dann erlebt er im Traum  das, was er am unmittelbarsten denkt. Wenn jemand nach ihm ruft, hört er jemanden im Traum nach ihm rufen; und andersrum, wenn er im Traum fällt, denkt er, er würde in Wirklichkeit fallen. Das Gehirn ist im Traum also unfähig, einen kritischen Gedanken zwischen Wahrnehmung und Urteil zu erzeugen.

Diese Leichtgläubigkeit, dieser unkritische und primitive Ausdruck der menschlichen Wahrnehmung, wird durch reflektiertes und mündiges Denken und Urteilen beseitigt. Über dieses Phänomen, was ich als kritische Distanz bezeichnet habe, habe ich zuvor schon gesprochen und woanders betont, wie wichtig bewusstes Urteilen und Handeln sind.

Leider ist diese Geisteshaltung, Dinge schnell zu glauben, oder schnell über Personen oder Umstände zu urteilen, eine verbreitete Krankheit unter Muslimen geworden. Das liegt auch teilweise daran, dass der Mensch immer mehr Informationen verarbeiten muss und daher kaum Zeit bleibt, jede Sache tiefgründig zu überdenken. Halb so schlimm wäre es, wenn man sich der Urteile enthält. Problematisch wird es aber, wenn wir über Dinge urteilen, die wichtig sind, wir aber zu wenig Faktoren berücksichtigen, bevor wir ein Urteil abgeben.

Diesen Fehler beschreibt unser erhabener Herr im Qurʾān in der Geschichte von Dāwūd, Allāhs Friede sei auf ihm, als dieser in seiner Gebetsnische war und zwei Engel in Menschengestalt zu ihm kamen:

"Ist nicht die Geschichte der zwei Streitenden zu dir gekommen, als diese über die Mauer des Gebetsplatzes kletterten. Als sie bei Dāwūd eintraten und er sich erschrak. Sie sagten: 'Fürchte dich nicht. Zwei Streitende (sind wir), die sich einander vergangen haben, so urteile zwischen uns in Wahrheit, und handle nicht ungerecht und führe uns zu einem geebneten Weg. Dieser ist mein Bruder. Er hat 99 Schafe und ich habe ein Schaf. Er sagte 'Gib sie mir' und er übertraf mich in der Rede.' 
Er (Dāwūd) sagte: 'Er hat dir fürwahr Unrecht getan, als er dein Schaf zu seinen Schafen wünschte. Und viele der Teilhaber vergehen sich gegeneinander, ausgenommen die, die glauben und gute Werke tun; und wenig sind diese.'
Und Dāwūd bemerkte, dass wir ihn geprüft haben, so kehrte er sich reumütig um und warf sich nieder und bereute." (Sūrah Ṣād - Verse 21-24)

Diese zwei Streitenden lösten sich plötzlich in Luft auf, nachdem Dāwūd sein Urteil gegeben hatte. Daher bemerkte er, dass es sich um eine göttliche Prüfung gehandelt haben muss. Er bemerkte, dass er einen Fehler getan hat, was in die Bücher als der Fehler Dāwūds eingegangen ist. Er hat nämlich über den Fall geurteilt, ohne sich die Position des anderen anzuhören. Für ihn wirkte es klar wie eine Ungerechtigkeit, dass ein Mann mit 99 Schafen das einzige Schaf seines Bruders verlangt. Das wirkte für ihn wie ein klarer Fall, so dass er es nicht für nötig hielt, die andere Seite anzuhören. 

ʿAbdullāh ibn Mubārak berichtet in seinem Kitāb az-Zuhd wa r-Raqāʾiq einige Aussagen über die Reue Dāwūds, Allāhs Friede sei auf ihm:

Al-Ḥasan al-Baṣrī sagte: "Als Dāwūd diesen Fehler beging, verweilte er vierzig Nächte in der Niederwerfung."

ʿAbdullāh ibn ʿUbayd sagte: "Dāwūd verharrte vierzig Nächte in der Niederwerfung weinend."

Muǧāhid sagte: "Er verblieb vierzig Tage in der Niederwerfung und er hob seinen Kopf nicht, bis auf dem Boden Gras gewachsen war durch seine Tränen."

Und Allāh, der Gnadenvolle und Allbarmherzige, nahm seine Reue an:

"Und so vergaben wir ihm dieses. Und er hatte bei uns fürwahr eine gute Stellung und eine schöne Einkehr. O Dāwūd, wir haben dich zu einem Sachwalter im Diesseits gemacht. Richte daher zwischen den Menschen in Gerechtigkeit und folge nicht deinen Gelüsten, damit sie dich nicht vom Weg abirren lassen. Die, die sich von Allāhs Weg abirren lassen, denen wird eine strenge Strafe zuteil, weil sie den Tag der Abrechnung vergaßen." (Sūrah Ṣād - Verse 25-26)

Die Weisheit ist hier sehr tiefgreifend und beachtenswert. Denn egal, wie klar und deutlich eine Situation aussieht, darf man nicht darüber urteilen, solange man nicht alle notwendigen Faktoren erfahren hat. Wenn man zwischen Personen schlichtet und Probleme zwischen mehreren Personen lösen bzw. beurteilen möchte, muss man jede Partei und jede Instanz anhören und erst dann darf man ein Urteil abgeben. Egal wie klar und deutlich die Situation auch scheinen mag.

Allāh, der Allweise und Allwissende sagt über die Diskussionen, die die Menschen bzgl. der Anzahl der Leute der Höhle (Aṣḥāb al-Kahf) geführt haben:

"Und diskutiere nicht über sie, außer in einer klaren Diskussion." (Sūrah al-Kahf - Vers 22)

Und an weiteren Stellen sagt unser Herr:

"Und wahrlich die Vermutung ersetzt die Wahrheit in keinster Weise." (Sūrah an-Naǧm - Vers 28)

"Wahrlich Allāh befiehlt euch, dass Anvertraute den Besitzern auszuhändigen und, wenn ihr über die Menschen richtet, in Gerechtigkeit zu richten." (Sūrah an-Nisāʾ - Vers 58)

Es wird ersichtlich, dass Allāh, der Gerechte und Vollkommene, von uns möchte, dass wir präzise darin sind, wenn wir über die Angelegenheiten der Menschen richten und sie beurteilen. Wenn uns die Angelegenheiten der Menschen jedoch nichts angehen, so ist es auch nicht unsere Aufgabe zu richten und zu urteilen. Daher muss der schlaue Gläubige begreifen, dass das Richten und das Urteilen sehr gefährlich sind und viel Vorsicht bedürfen und daher muss er immer dazu geneigt sein, gar nichts über andere zu denken und sie nicht im Innern durch Gedanken oder durch Äußerung von Aussagen zu beurteilen. 

Erst indem wir uns kurz anhalten und uns darüber bewusst werden, dass wir eine Sache gar nicht erst zu bewerten brauchen oder nicht genug Informationen haben, um der Sache gerecht zu werden, können wir eine kritische Distanz aufbauen. Diese kritische Distanz führt dann dazu, dass man generell kein Urteil im Kopf bildet, wenn man mit einer neuen Sachlage konfrontiert wird. Dies ist eine notwendige Qualität eines guten Gläubigen. Denn dadurch bewahrt man sich vor vielen üblen Dingen wie Leichtgläubigkeit, negative Gedanken, Abneigung gegen andere, Verurteilung, Verachtung, Herabschauen und dadurch auch noch das eigene Ego beflügeln usw.
Durch diese unkritische und voreilige Be- und Verurteilung öffnen sich so viele Türen zum Schlechten und zu Sünden und Fehlern des Herzens. Daher muss ein jeder Gläubiger diese kritische Distanz entwickeln und sie ständig üben.

"Wahrlich, Allāh gebietet die Gerechtigkeit, die Güte und die Beschenkung der Verwandten; und Er verbietet die Schändlichkeit, die Abscheulichkeit und die Gewalttätigkeit. Er warnt euch, auf dass ihr euch besinnen möget." (Sūrah an-Naḥl - Vers 90)

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