Sonntag, 26. Februar 2017

"Wir haben euch zu einer Gemeinde der Mitte gemacht..."

Das Abmühen, für mich die am besten geeignete Übersetzung für das Wort Ǧihād (جِهَاد), ist eine Pflicht für jeden Muslim. Warum wird der Begriff Ǧihād an erster Stelle für den kriegerischen Kampf verwendet? Das liegt daran, dass im Krieg die größte Form des Abmühens vorzufinden ist. Man setzt sein Leben aufs Spiel und ist bereit, für diesen Einsatz zu sterben. 

Wenn man die Biografien der Prophetengefährten liest, sieht man den besonderen Eifer der Gefährten darin, im Kampf kämpfen zu wollen. Die Absicht bei einem Kampf ist der Sieg. Nicht der Tod. Der Tod ist nicht wünschenswert an erster Stelle, sondern eine Kompensation im Falle dessen, dass man bei seiner Bemühung sein Leben verliert. Der eigentliche Sinn des Kampfes ist es, eine Sache voranzubringen, sich für eine Sache einzusetzen. Und genau um diesen essentiellen Teil soll es im Folgenden gehen.

Wenn etwas diese Ummah heimsucht, dann ist es das Verfehlen der Mitte (Al-Waṣaṭ), so wie Allāh, der Schöpfer (Al-Ḫāliq) und Gestalter (Al-Muṣawwir) im Qurʾān sagt:

"Und so machten wir aus euch eine Gemeinschaft der Mitte (Al-Waṣaṭ)" (Sūrah al-Baqara - Vers 143)

Die Muslime pendeln immer zwischen zwei Extremen. Die Identitätslosigkeit der Muslime begünstigst die Entstehung von Terrorgruppen in Krisengebieten, woraufhin die Muslime, die unter den Nichtmuslimen im Frieden leben, oft dazu geneigt sind, ihre Religion so liberal wie möglich zu präsentieren, um der Welt beweisen zu können, dass der Islam nichts mit Terrorismus zu tun hat.

Die einen übertreiben in der Strenge und die anderen lockern zu viel, aber die meisten schaffen es nicht, die gerade Mitte zu treffen. Der Grund liegt darin, dass die Menschen nicht einsehen können, dass die eigentliche Mitte Vernunft und Anstrengung auf eigener Faust bedarf. Man muss wie ein Prophet Verantwortung übernehmen und selbstständig denken und bereit sein, sich für die Wahrheit abzumühen. 

Hier möchte ich die ersten zwei Extreme darstellen:

1. Die Identitätslosen, die in irgendwelchen Terrorgruppen oder Ideologien ihren Selbstwertkomplex mit künstlichem Zusammenhalt und gegenseitiger Bestätigung zu kompensieren versuchen, meiden die Mitte, weil sie dann reine und eigenständige Identitäten werden müssten. Sie genießen in ihrer persönlichen Unsicherheit aber den Zusammenhalt in Gruppen und ebenfalls die Vorgabe von ideologischen Dingen, an die man  glauben soll. Man möchte ein Schaf in einer Herde sein und irgendwas durchziehen, was man nicht ganz verstanden hat, aber es auf jeden Fall gut klingt, weil alle sagen, dass es was Gutes ist.

2. Die Liberalen hingegen zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht viel Ahnung von ihrer Religion haben und ihr religiöses Bewusstsein davon abhängig machen, was die Gesellschaft für Eindrücke zu haben scheint. Demgemäß wird der Islam nicht genuin ausgelebt, wie er ausgelebt werden soll, sondern angepasst, entsprechend der Richtung, in die man durch seinen Auftritt von den Menschen wahrgenommen werden will.
Wesentlich für diese Art ist der verzweifelte Versuch, den Islam mit aktuellen Tagesthemen zu versöhnen. Der Islam wird verbogen und gedehnt, damit die Gesellschaft, in der man lebt, kein Unbehagen mit dem Islam empfindet.

Während die Identitätslosen den Drang haben, so anders wie möglich zu sein von allen anderen, haben die Liberalen den Drang so gleich wie möglich zu sein mit allen anderen.

Die gesunde Mitte wäre ein pragmatisches Selbstbewusstsein über den eigenen Islam. Jeder muss wissen, wer er ist und wofür er steht. Und wenn er Überzeugungen hat, die sich nicht mit den gängigen Alltagsthemen der nichtmuslimisch geprägten Gesellschaften versöhnen lassen, so weiß solch ein Muslim, wie er geschmeidig und reibungslos seine Meinung beibehalten kann, ohne die gesellschaftliche Ordnung damit zu stören und ohne sie irgendjemanden aufzuzwingen. Ambivalenz (Zwiespalt) und Ambiguität (Mehrdeutigkeit) waren für die vernünftigen muslimischen Rechtsgelehrten nie Grund, um die Gesellschaften zu spalten. Jeder muss wissen, wie er das beibehalten kann, wovon er überzeugt ist, ohne die Ordnung der anderen Gesellschaftsteilnehmer zu stören.

Doch das ist den meisten leider zu anstrengend, weil dann müsste man ja lernen und wissen, wie man genau ein guter Muslim wird, wie man sich benehmen muss gegenüber anderen, die nicht so denken wie man selbst usw. Man müsste an sich selbst arbeiten und wer will das schon? Die meisten wollen eine einfache homogene Gesellschaft, wo jeder so denken soll, wie man selbst, weil es kann keine mehreren Wahrheiten geben und weil man halt nicht so genau weiß, warum die eigene Wahrheit die einzige Wahrheit ist, tut es einem schwer, dass andere Menschen mit anderen "Wahrheiten" nun einem die innere Ruhe rauben. Ironisch ausgedrückt, aber der Sinn sollte klar sein. Und damit kommen wir zu den nächsten Extremen.

1. Die Leichtfertigen und Faulen sind jene, aus der die Kategorie der Drückeberger (Arbeitsverweigerer) gebildet wird.

a. Die Leichtfertigen sind jene, die das Paradies wollen und die Religion zu lieben behaupten. Sie trauern um die Muslime und hassen die Ungerechten. Einige von ihnen, die besonders viel Frust auf die Menschheit haben, träumen davon, dass sie in den Krieg ziehen und eine Kugel abbekommen, um als Märtyrer von dieser schmutzigen und ungerechten Welt fernzukommen. Sie beschweren sich darüber, dass Gelehrte in den Gefängnissen sitzen und beschreiben diese Welt mit Zitaten vom Propheten, Friede und Segen auf ihm, und anderen großen Persönlichkeiten des Islams, dass diese Welt ein Gefängnis und ein übler Ort ist usw. 
Das Problem hierbei ist jedoch, dass der Prophet und diese großen Persönlichkeiten, obwohl sie das alles gesagt haben, fleißige Menschen gewesen sind, die ihr Leben lang bis ins hohe Alter für eine Sache kontinuierlich im Einsatz gewesen sind. Sie hatten Frauen und Kinder, Familie und Freunde. Sie lebten unter Menschen, agierten unter Menschen und waren Menschen ihrer Gesellschaften und haben sich jeden Tag für ihre Überzeugung auf ganz nützliche Weise abgemüht.
Die Leichtfertigen identifizieren ihre eigenen Probleme, ihre Verzweiflungen, ihr Selbstmitleid und ihre Hoffnungslosigkeit mit den Aussagen dieser wertvollen Personen und suchen Trost darin, indem sie sagen "Ach schau, sogar der Prophet/der Gefährte/der Gelehrte usw. sagen, dass diese Welt ein Gefängnis und ein schlechter Ort ist. Das erklärt, warum es mir hier so schlecht geht."

b. Die Faulen sind ganz einfach ausgedrückt diejenigen, die den ganzen Tag träumen, viel zu erreichen, aber nie was erreichen, weil ihnen das zu anstrengend wird. "Ich würde so gern ein Gelehrter sein." / "Ich würde gern ein Ḥāfiẓ sein." / "Ich würde gerne dies und jenes erreichen." usw.
Ich werde ihren Zustand nicht bewerten, aber mit folgendem Satz kommentieren: "Wer will, der tut."
Wichtig ist jedoch zu wissen, dass der Ǧihād hier nochmal besonders zur Geltung kommen sollte. Denn diese Dinge zu wollen gleicht nicht, diese Dinge zu haben. So sollten wir dies auch im Bezug auf das Paradies bedenken. Das Paradies zu wollen ist nicht gleich wie das Paradies schon zu haben. Und das Paradies wird einem nicht einfach so geschenkt, sondern bedarf der Abmühung.

2. Die Übereifrigen sind das Gegenextrem. Es sind jene mit kurzzeitigen Power-Schüben, die nach kurzer Zeit schnell ihr Ende finden. Ebenfalls gehören auch diejenigen zu dieser Gruppe, die halt irgendwo in den Krieg ziehen oder irgendwas Großes zu erreichen versuchen, ohne viel Kopf und Verstand. Sie wollen einfach darauf losstürmen und irgendwas machen. Es geht nicht darum, was und wie richtig es ist, es geht darum, dass ihr Tatendrang befriedigt wird. Es sind jene, die sich beeilen und keine Grenzen kennen.

So sagt der Allwissen (Al-ʿAlīm) im Qurʾān:

"Doch nein! Ihr liebt die Eile und vernachlässigt das Jenseits." (Sūrah al-Qiyāma - Verse 20 und 21)

"Sie sind es, die die Eile lieben und den Tag vernachlässigen, der hinterher auf ihnen lastet." (Sūral Al-ʾInsān - Vers 27)

Mit Eile ist der Wunsch nach schnellen Resultaten gemeint. Und das ist ein Merkmal dieses Extrems. Man will etwas ganz schnell erreichen. Alle Probleme sollen ganz schnell beseitigt werden. Alles ist einfach und alle Probleme können beseitigt werden, wenn man ganz schnell etwas macht. Dies ist auch der große Trugschluss derjenigen, die denken, dass alle Probleme beseitigt wären, wenn ein bestimmter Diktator gestürzt oder alle Ausländer vertrieben werden würden.

Was wäre bei diesen zwei Extremen die gesunde Mitte? Es ist die Langatmigkeit. Man muss pragmatisch und realistisch sein. Wer etwas erreichen will, sollte sich dessen bewusst sein, was er auf sich nehmen muss, um es zu erreichen. Man muss Pläne schmieden, Vorbereitungen treffen und sich bewusst werden, dass man große Dinge nur auf langfristiger Ebene erreichen kann. Dafür benötigt es einen langen Atem und Durchhaltekraft. Die Eroberung Makkas geschah erst 20 Jahre später, nachdem die Botschaft den Propheten, Friede und Segen auf ihm, erreicht hat.

Wir müssen ein Vorbild im Propheten sehen. Nicht in einzelnen partikulären Taten, sondern in seiner Gesamtheit. Sunnah bedeutet nicht eine handvoll Taten, die man nachahmt, sondern Methodik. Allāh, der Allweise (Al-Ḥakīm) spricht im Qurʾān an verschiedenen Stellen über seine eigene Sunnah, mit der Er seine Art und Weise meint, wie er mit den Menschen umgeht. Denn die konkrete Art, wie Allāh mit allen Völkern im Einzelnen umgegangen ist, unterscheidet sich. Doch seine Sunnah ändert sich nicht, wie Er selbst im Qurʾān sagt:

"Du wirst in Allāhs Methode/Vorgehensweise keine Veränderung finden; und du wirst in Allāhs Methode/Vorgehensweise  keinen Wechsel finden." (Sūrah Al-Fāṭir - Vers 43)

"Dies ist Allāhs Methode/Vorgehensweise, wie sie zuvor schon ergangen ist; und du wirst in Allāhs Methode/Vorgehensweise keine Veränderung finden." (Sūrah Al-Fatḥ - Vers 23)

So wie Allāhs Sunnah (Sunnatullāh) sich in den einzelnen Fällen anders zum Ausdruck brachte, aber von der Methode her gleich geblieben ist, ist die Sunnah des Propheten nicht die bloße Nachahmung konkreter Handlungen, sondern die Übernahme seiner ganzen Handlungs- und Denkmentalität. Und diese Vorgehensweise des Propheten ist seinem ganzen Leben als Gesamtheit zu entnehmen. Als Vorbild, wie man als Gläubige des Wegs der Mitte (Ṣirāṭ al-Mustaqīm) und als Mitglied der Gemeinde der Mitte (Ummatan waṣaṭā) zu leben hat.

Ohne Übertreibung und ohne Untertreibung. Ohne Träumerei, Faulheit oder leichtsinnigem Übereifer. Als sich selbst begreifende und bewusste Muslime, die ihr Leben, ihre Gedanken und ihre Taten im Griff haben. Dies ist, was es anzustreben gilt.

Und bei Allāh liegt der Erfolg.

Das Problem bei den Meinungsverschiedenheiten im Fiqh

Kamāl ad-Dīn al-Udfuwī¹ (gest. 747 n.H.): „Bei den umstrittenen Rechtsfragen (masāʾil al-ḫilāf), zu denen kein spezifischer und definitiver ...