Freitag, 8. Dezember 2017

Echte Probleme. Falsche Lösungen.

In diesem Beitrag möchte ich über ein allgemeines Problem reden. Bei diesem Problem geht es um Probleme selbst und wie die Menschen es nicht schaffen, ihre Probleme zu meistern, weil sie davor fliehen oder die Energien, die uns unser Schöpfer zur Verfügung gestellt hat, verschwenden und in falsche Dinge oder Lebensbereiche stecken.

Das Muster, über das ich sprechen möchte, lautet negative Konditionierung. Es ist das Verhalten, sich selbst durch Gewohnheit Handlungen oder Mittel anzugewöhnen, zu denen man neigt, wenn negative Zustände eintreten.

So sagt der Dichter:

Es gibt einem zu verstehen,
welche Umstände bestehen,
wenn man seine Mittel sieht,
zu denen man bei Trauer flieht.


Die menschliche Psyche funktioniert so, dass sie gerne Muster entdeckt und entwickelt, damit sie darauf zugreifen kann, um sich Denk- und Lösungsprozesse zu vereinfachen.

Durch die wiederholte Ausführung eines Verhaltens auf einen Zustand, kann man sich selbst konditionieren. Das heißt, dass man sich selbst eine Lösung oder eine Reaktion beibringt, die man in Folge eines eintretenden Zustandes ausführt.

Diese Reaktionen sind oft belohnende und positive Handlungen, die unmittelbar und auf hormoneller Basis durch Glückshormone (durch Ausschüttung von Dopamin und Endorphinen) das Problem psychisch mildern oder einem das Gefühl geben, als ob sie damit das Problem mildern würden.
Hieraus kann man sich schon ungefähr das Muster von Suchtkrankheiten entnehmen, bei denen Menschen süchtig nach etwas werden, was sie zu oft in Folge von allen möglichen Zuständen ausgeführt haben.

Daher werden diese Mittel, die diese Glückshormone hervorrufen auch oft ungewollt als Allzwecklösungen missbraucht, bis man sich dazu konditioniert, auf diese Mittel zuzugreifen, sobald man nur irgend einen Ansatz von psychischer Belastung empfindet.

Klassische Suchtmittel, die in der Suchtbehandlung gängig vorkommen, sind beispielsweise:

• Alkohol
• Zigaretten / Shisha 
• Alle anderen Arten von Rauschmitteln, die man als Drogen bezeichnet (Alkohol und Zigaretten gehören auch dazu, aber werden gesellschaftlich gesondert betrachtet)
• Sexuelle Stimulation: Geschlechtsverkehr, Pornografie, Masturbation
• Konsum von stark zuckrigen oder fettreichen Lebensmitteln, welche ebenfalls Glückshormone ausschütten
• Konsum von Medien (Alle Formen von Social Media Plattformen)
• Individuelle positive Reize, entsprechend dem, woran man selber einen positiven Bezug entwickelt hat

All diese Mittel können genutzt werden, um negative Belastung, wie Stress, Müdigkeit, Hunger, Kummer, Wut usw. zu "überschütten". Wenn man dies zur Gewohnheit gemacht hat, erzeugt der Körper ein Reiz-Reaktions-Muster, welches man als Konditionierung bezeichnet. Man hat sich selbst negativ konditioniert. Negativ, weil man diese positiven Hormonausschüttungen in Folge von negativen Zuständen hervorrufen möchte.

Nun folgt das Gehirn diesen Mustern, umso häufiger man sie ausübt. Sobald man sich an ein Muster fixiert hat, folgt auf eine jede negative Stimmung der Wunsch, auf diese Mittel zuzugreifen. Jetzt kommt ein weiteres Problem hinzu. Denn das Gehirn entwickelt sich mit und je häufiger man seine neuronale Struktur mit diesen Verhaltensmustern stimuliert und "belohnt", umso häufiger und heftiger möchte das Gehirn die nächste Ausschüttung erleben. Daher ensteht ein Steigerungsdrang. Das Gehirn möchte, dass man die Aktivität oder die Menge, mit der man sich "belohnt" steigert oder vermehrt und so kommt es zu exzessiver Ausprägung einer Sucht. Man erhöht die Anzahl der Zigaretten am Tag oder konsumiert immer mehr Süßigkeiten, wenn ein negatives Gefühl aufkommt.

Wie wirkt sich das auf das Leben aus? 

Erstens: Es ist ein schrecklicher Teufelskreis, der einen davon abhält, tatsächliche Lösungen für die Ursachen der negativen Gefühle zu finden. Man polarisiert oder verlagert die Lösung der Probleme nämlich auf Mittel, die das Problem nur übertönen, aber nicht wirklich lösen.

Zweitens: Kontrollverlust. Man verliert die Fähigkeit, sich selbst zu beherrschen oder zu disziplinieren und so ist man nicht in der Lage, andere Lebensbereiche ausreichend zu meistern.

Drittens: Insbesondere bei den sexuellen Stimulationen und Rauschzuständen (da auf diese Erschöpfung folgt) kommt es zu Energieverlust. Die körperlich biologisch vorgesehene Energie, die zur natürlichen Paarung und Pflege einer Familienbeziehung oder Ehe gedacht ist, wird verschwendet. So zeigt sich bei Betroffenen von Pornografiesucht häufig die Schwäche in der Erhaltung von Beziehungen in ehelichen als auch in nichtehelichen Verhältnissen (Freundschafts-, Familien und Bekanntenbeziehungen). Mangel an sozialer Kompetenz und anderen gesellschaftlichen Qualitäten.

Es ist daher eine bekannte Sache in der Prävention und Bekämpfung von Suchtkrankheiten, dass diese umso schwerer zu lösen sind, je weiter man darin verwickelt ist. Und gleichzeitig liegt die Lösung nicht in einer äußeren Instanz, sondern nur bei einem selbst. Denn der Betroffene muss sein Gehirn neu "polen" bzw. ausrichten und die frühere Konditionierung durch Entwöhnung beseitigen. Dies dauert oft lange Perioden der Enthaltsamkeit den Suchtmitteln gegenüber. Und wenn dies nicht durch Einsicht und eigenständige Disziplin gelingt, wird der Betroffene sich nicht aus diesem tiefen Graben herausholen können.

Daher müssen Suchtkrankheiten durch motivierende Instanzen und guter Beratschlagung begleitet werden. Es bedarf einer großen Menge Motivation durch den Betroffenen und einer im besten Fall beratschlagenden und beaufsichtigenden Instanz.

Dieses Thema ist sehr wichtig, da die oben beschriebene Realität leider sehr viele Muslime betrifft und viele entweder ihre Probleme nicht als Probleme wahrnehmen wollen/können oder sich nicht trauen, Hilfe zu ersuchen. Es ist keine Schande, bei solchen Problemen professionelle Hilfe zu ersuchen, auch wenn man dabei von Nichtmuslimen behandelt wird.

Möge Allāh uns davor bewahren, unsere Probleme mit Suchtmitteln zu verdrängen und möge Er uns helfen, unsere Probleme auf richtige Art und Weisen zu lösen. Āmīn

Donnerstag, 16. November 2017

Die Unabhängigkeit von den Geschöpfen

Der Muslim, der an den Jüngsten Tag glaubt und auch versucht, sein Leben mit dem Bewusstsein zu gestalten, dass er eines Tages sterben wird und am Jüngsten Tag für seine Taten gerade stehen muss, wird einiges im Laufe seines Lebens erkennen, was seine Haltung den Geschöpfen gegenüber anbelangt.

Allāh, alles Preis und Lob gebührt Seiner, sagt im Qurʾān:

"Und ein jeder von ihnen wird am Jüngsten Tag alleine zu Ihm kommen." (Sūrah Maryam - Vers 95)

"Am Tage, da der Himmel wie geschmolzenes Metall sein wird, und die Berge wie farbige Wollflocken, und ein Freund nicht mehr nach einem Freunde fragen wird, werden sie in Sichtweite zueinander gebracht werden, und der Schuldige würde sich wohl von der Strafe jenes Tages loskaufen wollen mit seinen Kindern und seiner Frau und seinem Bruder und seiner Verwandtschaft, die ihn beherbergt hat, und allen, die insgesamt auf Erden sind, wenn es ihn nur retten könnte." (Sūrah al-Maʿāriǧ - Verse 8-14)

"Doch wenn das betäubende Getöse kommt am Tage, da der Mensch seinen Bruder fluchtartig verlässt, sowie seine Mutter und seinen Vater und seine Frau und seine Söhne, an jenem Tage wird jeder eigene Sorgen genug haben, die ihn beschäftigen." (Sūrah Abasa - Verse 33-37)

Es ist somit ersichtlich, dass der Mensch am Jüngsten Tag einzig und allein seine eigenen Sorgen tragen wird. Diese Tatsache beinhaltet einige Weisheiten und Erkenntnisse, die in diesem Artikel genauer verdeutlicht werden sollen.

Wenn wir nun alleine dastehen werden und nichts und niemand uns einen Nutzen bringen kann, dann müssen wir uns fragen, was uns das in unserer Beziehung zu den Geschöpfen im Diesseits lehren könnte. 

Allāh, erhaben und alles Lobes würdig ist Er, sagt im Qurʾān:

"(Er ist derjenige,) der den Tod und das Leben erschaffen hat, auf dass Er euch prüfe, wer von euch die besseren Taten verrichte; und Er ist der Erhabene, der Allvergebende." (Sūrah al-Mulk - Vers 2)

"Wahrlich, diejenigen, die sagen: 'Unser Herr ist Allāh', und die sich dann aufrichtig verhalten - zu ihnen steigen die Engel nieder (und sprechen): 'Fürchtet euch nicht und seid nicht traurig, und erfreut euch des Paradieses, das euch versprochen wurde.'" (Sūrah Fuṣṣilat - Vers 30)

Der Mensch hat die Aufgabe, durch Taten und durch Aufrichtigkeit seine Dienerschaft und seine Liebe und Hingabe dem Herrn der Welten gegenüber, der uns alles Leben und Möglichkeiten gab, unter Beweis zu stellen. Wenn der Anfang aller Dinge und das Ende aller Dinge unser Herr ist, dann liegt es auf der Hand, dass Er der einzige Fokus der Dinge sein darf. Alles andere, sei es Besitz, Familie, Ansehen, Stellung usw. sind rein funktionaler Natur und dürfen ihre Rolle als Funktionalität nicht verlassen. Sie sollen uns dabei als geistige und praktische Mittel zur Verfügung stehen, damit wir diesem Ziel nachgehen können. Jeder arbeitet für sich individuell an einem guten Ende und an einer günstigen Position am Jüngsten Tag. Dabei helfen wir uns gegenseitig, uns sozusagen selber zu helfen. 

Da die Geschöpfe um uns herum somit nur funktional sind, um unseren Fokus auf Allāh zu erleichtern oder zu ermöglichen, dürfen diese Geschöpfe logischerweise gewisse Sachen nicht in unserem Leben bewirken:

1. Sie dürfen uns nicht zu Sünden oder zu Fehlern führen.

Das ist ein Problem, was viele in der Freundschaft nicht beachten. Wenn man sich den zuvor erwähnten Fokus genau vor die Augen nimmt, wird man erkennen, dass Freunde und Begleiter nach diesem Prinzip ausgewählt werden müssen. Sie dürfen uns kein Hindernis sein und dürfen uns nicht negativ beeinflussen. Nur weil man auf dieselbe Schule ging heißt das nicht, dass man diese Person sein Leben lang nun als Freund behalten müsste. Alles ist abdingbar, sobald es beim Streben nach der Zufriedenheit Allāhs zu einem Problem und einem Hindernis wird.

2. Sie dürfen nicht grenzenlos geliebt werden.

Seien es Kinder, Ehefrau oder das Geld. All jenes hat seine Funktionalität und gehört zum Schmuck des diesseitigen Lebens. Nichts davon darf übermäßig geliebt werden. Denn die übermäßige Liebe führt zum Gehorsam. Jedoch ist uneingeschränkter Gehorsam nur Allāh gegenüber bestimmt. Wenn Dinge oder Personen zu sehr geliebt werden, wird man in der Lage sein, die Prinzipien, die man vor Allāh einhalten möchte, zu missachten.
Genauso wird so eine Liebe mit dem Prinzip der Vergänglichkeit im Widerspruch stehen; und auch mit der Tatsache, dass jede einzelne Person oder jeder einzelne Gegenstand am Jüngsten Tag keinen Stellenwert mehr für uns haben wird, wenn wir alleine vor Allāh stehen.
Daher sagten viele Gelehrte, dass in den Lebensbeispielen vieler Propheten diese Grenze erprobt wurde. So wurde Ādam, Friede auf ihm, mit dem Paradies geprüft und dem Gefühl, dort ewig sein zu können. Und Ibrāhīm, Friede auf ihm, wurde mit der Liebe zu seinem Sohn Ismāʿīl geprüft. Auch der Prophet Muḥammad, Allāhs Friede und Segen auf ihm, wurde mit der Liebe zu seiner Frau ʿĀʾiša und zu seinen Enkeln al-Ḥasan und al-Ḥusain geprüft.

Die Beachtung der Bindung an die Geschöpfe ist etwas sehr fundamental wichtiges und darf bei keiner Angelegenheit im Leben vergessen werden. Wir müssen stets darauf achten, dass wir die Geschöpfe nach den grundlegenden Prinzipien bewerten und uns auch nur nach diesen Prinzipien ihnen gegenüber positionieren. Nichts darf überbewertet werden und der Fokus auf unsern Herrn darf niemals außer Acht gelassen werden. Denn wenn der Fokus erst einmal weg ist, wird man viele Folgefehler begehen und eine Abhängigkeit zu den Geschöpfen entwickeln. Diese Abhängigkeit kann sich im schlimmsten Fall ausweiten und somit unsere Beziehung zu Allāh dem Erhabenen komplett zerstören und uns zu Knechten der Geschöpfe machen, indem wir diesen Geschöpfen aufgrund der Abhängigkeit hinterherlaufen. Jedoch wird uns nichts davon gewährt werden, denn Allāh ist derjenige, der gewährt und verwehrt. Wenn Er sieht, dass wir uns Seinen Geschöpfen unterworfen haben, dann wird Er die Lage verschlimmern. So wird sich die Abhängigkeit immer weiter ausdehnen und es wird ein endloser Teufelskreis werden. Aus so einem Zustand herauszukommen würde nur noch dann gelingen, wenn wir zu Allāh zurückkehren und die Prinzipien wieder aufnehmen würden.

Möge Allāh uns vor so einem Zustand der Abhängigkeit bewahren. Āmīn.

"Er ist der Erste und der Letzte, der Offenbare und der Verborgene, und Er ist der Kenner aller Dinge." (Sūrah al-Ḥadīd - Vers 3)

Mittwoch, 25. Oktober 2017

Emotionale Misshandlung und Abhängigkeit in (muslimischen) Ehen

In den letzten Jahren bin ich immer wieder Fällen von emotionaler Misshandlung in muslimischen Ehen begegnet. In dem folgenden Artikel möchte ich über dieses leider viel zu häufig vorkommende Phänomen reden und erläutern, was emotionale Misshandlung überhaupt ist, wie es zustande kommt und welche signifikanten Probleme es beinhaltet.

Die folgende Untersuchung baut auf eine eigene Statistik auf und bedient sich daher an keiner Studie, sondern beruht auf die Fälle, mit denen ich in der Vergangenheit gearbeitet habe.

Die emotionale Misshandlung in einer Beziehung baut auf der Tatsache auf, dass zwischen zwei Personen eine einseitige intensive emotionale Bindung besteht. Für die Vereinfachung nutze ich die Ehe, jedoch sind davon auch nichteheliche Beziehungen betroffen, insbesondere bei dem Phänomen von Liebesbeziehungen von jungen Muslimen auf sozialen Netzwerken.

Emotionale Misshandlung ist ein Zustand von gestörtem Gleichgewicht in einer Beziehung, bei der ein Partner durch (dauerhafte) emotionale Einwirkung auf den anderen Partner eine Art emotionalen Käfig um seinen Partner aufbaut und ihm unter dem Druck emotionaler Last gefügig macht oder das Selbstbewusstsein oder die Willenskraft des Partners bricht. So wird die objektive Wahrnehmung des emotional misshandelten Partners auf die subjektive Ebene des misshandelnden Partners reduziert.

Die emotionale Misshandlung baut auf gewissen Bindemitteln und Voraussetzungen auf, welche eine Person mit einer anderen Person verbinden. Um welche Bindemittel es sich handelt und wie daraus ein Problem entsteht, soll im folgenden Teil erläutert werden:

• Vertrauen/Schuldzuweisung: In einer Beziehung entsteht ein Vertrauen, bei der man seinem Partner seine Schwächen und empfindlichen Seiten deutlich macht. Dadurch, dass der eine Partner genau weiß, welche Schwächen und empfindliche Seiten der andere Partner hat, kann er, gewollt oder ungewollt, genau diese Schwächen angreifen, wenn es zum Beispiel Streit in der Beziehung gibt. Wenn der angegriffene Partner nicht genau erfassen kann, inwiefern Vorwürfe stimmen oder nicht stimmen, kann es dazu kommen, dass er tatsächlich an die Möglichkeit denkt, dass die Schuld auf seiner Seite läge.
Wenn sich diese Methode bewährt und der misshandelnde Partner sieht, dass er mit dieser Vorgehensweise immer als Gewinner aus einem Streit hervorgeht, kann er daraus ein Gewohnheitsmuster entwickeln und Schuldzuweisungen nutzen, die auf diese Schwächen anspielen, um ein Schuldgefühl beim Partner zu erzeugen, damit dieser sich entschuldigt.

Diese Misshandlung wenden Menschen an, die in ihrem Wesen tendenziell rechthaberisch, streitsüchtig oder einsichtslos sind. Diese Eigenschaften fußen oft auf einem sehr stolzen oder übermütigen Charakter, der ungern Fehler bei sich entdecken möchte oder dazu gar nicht in der Lage ist und eher jede Schuld auf andere verlagert (Selbstwertdienliche Verzerrung) oder nicht ertragen kann, zu verlieren (Versagensangst). 

• Hormonelle/Emotionale Verbundenheit: Wenn ein Partner die Nähe des anderen Partners aufgefasst hat und schlecht davon abkommen kann, Nähe und Zuneigung des anderen zu bekommen, kann die weniger verbundene Person im Falle von emotionaler Entfernung wahrnehmen, wie der Partner bemüht ist, diese Entfernung wieder aufzuheben, um jede Gefahr einer Trennung zu beseitigen (Trennungsangst). Es besteht somit das Verlangen, emotionale Spannungen und Entfernungen mit allen Mitteln zu beseitigen (Harmoniesucht). Wenn der weniger verbundene Partner nun erkennt, dass der andere Partner im Falle drohender Disharmonie immer dazu neigt, sich zu beugen oder den Wünschen des Partners nachzugehen, kann auch hier ein Gewohnheitsmuster entstehen, bei der dieser Drang, emotionales Gleichgewicht mit allen Mitteln wieder herzustellen, ausgenutzt werden kann, um seine eigenen Wünsche durchzusetzen.

Diese Misshandlung begehen Menschen, bei denen eine Mischung von Opportunismus und Gewissenlosigkeit zu finden ist. Sie möchten ihrem Vorteil gemäß leben und sind dazu bereit, andere auch auszunutzen. Sie haben kein schlechtes Gewissen, wenn alles so klappt, wie sie es sich persönlich wünschen würden, auch wenn sie dabei die Verhaltensweisen des Partners missbrauchen. 

• Hoffnung: Hoffnung ist ein Bindemittel, welches immer dann zum Einsatz kommt, wenn eine Beziehung schon stark in die Brüche gegangen ist oder dabei ist, in die Brüche zu gehen. Hierbei merkt ein Partner, dass er bei Problemen oder Unzufriedenheit innerhalb der Ehe dem anderen Partner einige Versprechen machen muss, dass ein Zustand besser wird, um seinen Partner zu beruhigen. Am Anfang sind es oft ernste Versprechen, aber mit der sich zeigenden Wirksamkeit, dass man nur solche Aussichten projizieren muss, um die Erwartungshaltung des Partners zu besänftigen, wird auch hier ein Gewohnheitsmuster entwickelt, bei dem sich ein Partner immer häufiger daran bedient, wenn er merkt, dass der andere Partner mit der Beziehung unzufrieden ist und gewisse Dinge verlangt oder einen Mangel anmerkt. 

Dieses Verhalten zeigt sich bei Menschen, die Dinge krankhaft aufschieben (Prokrastination)  oder an Antriebsstörungen leiden und somit nie oder schwer in die Gänge kommen können.

Das Resultat solcher Misshandlungen ist oft, dass durch zunehmender Häufigkeit ein Kontrollverlust über die eigene Person entsteht und man als misshandelte Person irgendwann unter die Kontrolle des Partners fällt. Es ensteht eine Willensschwäche, bei der man bemerkt, dass etwas nicht stimmt aber nichts dagegen unternehmen kann, weil man unter dem Einfluss des Partners schwer zu eigenen Entscheidungen kommen kann. Dies führt zur Abhängigkeit, bei der man eine kognitive Dissonanz erlebt. Das heißt, dass man unterschiedliche widersprüchliche und Gefühle und Spannungen in sich hat; aufgrund der Willensschwäche aber auch nichts dagegen unternehmen kann. Solche Personen sind dann oft unzufrieden, wenn sie mit ihrem Partner zusammen sind und möchten von diesem Zustand freikommen und wenn sie von ihrem Partner entfernt sind, empfinden sie wieder Unzufriedenheit und möchten diesen Zustand beseitigen. Egal was man macht, das Problem ist nicht wirklich zu beseitigen.

Man kann nicht jede Beziehung einfach nach solchen Kriterien bewerten und sagen, dass man emotionaler Misshandlung ausgesetzt ist. Daher gibt es auch keine einheitliche Lösung. Die Fälle müssen individuell untersucht und behandelt werden. 

Denn die bisherige Beschreibung ist eine allgemeine Beschreibung. Für uns Muslime gilt nämlich noch die wichtige Ebene der Belehrung. Denn muslimische Partner müssen jeweils für sich an ihrem Gewissen arbeiten. Denn jeder Muslim sollte sich im Normalfall über seine Beziehung zu seinem Herrn bewusst sein und daher auch ein Pflichtbewusstsein ggü. Seiner Erhabenheit empfinden. Ein pflichtbewusster Muslim mit einem gesunden Gewissen ggü. dem Herrn der Welten begeht solche Misshandlungen nicht. Oft sind solche Misshandlungen daher unterbewusst und die psychischen Probleme sind noch gar nicht als Probleme erfasst worden. Daher bedient man sich bei solchen Problemen an psychologischen Therapien, bei denen kranken Personen ihre Krankheit erst bewusst gemacht werden muss. Denn die Disposition, seinen Partner als religiöser Mensch misshandeln zu können hängt mit vielen Störungen zusammen, die gar nicht als Störungen wahrgenommen werden wollen (Bias blind spot). 

Daher muss man zuerst eine Problemanalyse machen. Es gibt Menschen, die ihre Partner bewusst misshandeln und hierbei liegt die Lösung dann in der aktiven Belehrung und Erziehung/Zurechtweisung dieser Personen. Wenn die misshandelnde Personen starke Tendenzen zur Einsichtslosigkeit und Selbstüberschätzung hat, bedarf es oft psychologischer Betreuung, bei der zur Einsicht begleitet werden muss.

Das Problem ist, dass Muslime diese Form von psychologischer Behandlung oft ablehnen. Entweder aufgrund der Tatsache, dass sie im Vorhinein gar kein zu behandelndes Problem einsehen möchten, aber auch aus anderen Gründen wie falscher Stolz oder Ablehnung nichtmuslimischer Problembehandlungen. Dann hört man solche realitätsfernen Aussagen wie "Ein Nichtmuslim kann einem Muslim, der an Allāh und den Jüngsten Tag glaubt, nicht psychologisch behandeln. Ich habe meinen Glauben." oder anderen Unsinn wie "Ich lese einfach den Qurʾān und mache Ruqyā, um mich zu behandeln." Nicht dass ich Ruqyā als Methode anzweifeln würde. Aber ein pflichtbewusster Muslim, der seine Religion wirklich mit Gewissheit und Gradlinigkeit praktiziert, würde gar nicht an erster Stelle in das Bild einer Person fallen, die psychologische Behandlungen benötigen würde und müsste somit auch gar kein Problem mit Ruqyā behandeln.

Oft werden auch falsche Problemanalysen getätigt, indem man sich falschen Vorstellungen unterwirft, die hier und dort unter Muslimen die Runde machen, wie die Tatsache, dass man verzaubert wäre oder jemand ein böses Auge gemacht hätte. Dies passt nochmal in das Bild der selbstwertdienlichen Verzerrung, bei dem man ein Problem tendenziell nach außen verlagert, statt sich selbst unter die Lupe zu nehmen.

Was diejenigen angeht, die misshandelt werden, ist immer dringend zu raten, die kognitive Dissonanz zu erkennen und Problemlösungen anzustreben. Wenn man dies über sich einfach ergehen lässt, wird es im Laufe der Zeit immer schlimmer, bis man irgendwann so handlungsunfähig wird, dass man gar nicht mehr aus dieser Zwickmühle herauskommen kann.

Ich bitte Allāh darum, dass er die Menschen zur Einsicht begleitet und jedem dabei hilft, jeden Tag an seiner Persönlichkeit etwas zu verbessern. Āmīn.

Freitag, 8. September 2017

Taqī ad-Dīn ʾAḥmad ibn Taymiyya al-Ḥarrānī

Einer der gewaltigsten Gelehrten, dessen Texte und Aussagen auf vielerlei Art und Weisen missbraucht wurden, ist Taqī ad-Dīn ʾAḥmad ibn Taymiyya al-Ḥarrānī, möge Allāh sich seiner erbarmen. Auf ihn trifft ein Problem, welches vielen Gelehrten widerfahren ist, die sehr viel geschrieben haben. Ibn Taymiyya schrieb nach Aussagen seines Schülers Ibn Qayyim al-Jawziyya 350, und laut seinem anderen Schüler Šams ad-Dīn aḏ-Ḏahabī um die 500 und laut modernen orientalistischen Forschungen um die 750 Werke, von denen viele verloren gegangen sind. Wenn ein Gelehrter viele Werke schreibt, kommen gewisse Probleme zustande: 1. Sie entstehen in verschiedenen Lebensabschnitten. a. Es ist daher nicht immer klar, ob eine Haltung oder eine Meinung durchgehend beibehalten wurde. b. Das Alter bestimmt das Temperament. So sind Formulierungen in der Jugend oft schärfer, während im Alter die Weisheit durch Lebenserfahrung mehr in den Texten vordringt. 2. Es gibt viele Kontexte, in denen etwas gesagt wird. Nicht jede Passage ist somit wortwörtlich extrahierbar. Durch diese Vielheit finden sich daher viele unterschiedliche Rezeptionen (Interpretationen) und jeder, der nach Ibn Taymiyyas Ableben mit seinen Büchern in Kontakt kommt, liest nicht 100% von dem, was er geschrieben hat, zumal vieles gar nicht mehr zugänglich ist. Deswegen macht jeder seinen eigenen Salat aus dem, was er vorfindet. So haben sich sehr viele Bewegungen, Strömungen, Sekten, Ideologien, Schulen uvm. an seinen Werken bedient und eigene Lehre entwickelt, welche durch Ibn Taymiyyas wissenschaftlichem Geist inspiriert wurden. Leider wird jede abgeleitete Idee auf ihn zurückgeführt und so sehen wir in heutiger Zeit, dass ihm alles mögliche vorgeworfen wird. Ich möchte nicht sagen, dass Ibn Taymiyya nur dann zu verstehen ist, wenn man alle seine Werke gelesen hat. Nein; vielmehr ist Ibn Taymiyya ein Mensch, der sehr verständlich schrieb und seine Haltung auch einfach zu begreifen ist. Das Problem ist aber der Bestätigungsfehler, der im früheren Beitrag besprochen wurde. Die Leute entnehmen den Texten Ibn Taymiyyas das, was ihrer bisherigen Grundhaltung dienlich scheint und sie ernähren ihre Neigungen oder Konzepte durch die Aussagen und Argumentationen Ibn Taymiyyas. So wird und wurde Ibn Taymiyya wie eine Spielkarte verwendet gegen jede andere Idee, der man etwas entgegnen will/wollte. Man bedient/e sich an den passenden Stellen und spielt/e Ibn Taymiyya gegen jeden und alles aus, was man persönlich bekämpfen bzw. widerlegen will/wollte. Doch das ist ein ganz klarer Missbrauch. Eine Beleidigung eines solch scharfen Geistes und Wissenschaftlers. Wer Ibn Taymiyya ganz nüchern liest, auf der Suche nach Weisheit und Gradlinigkeit, der wird erkennen, dass Ibn Taymiyya eigentlich nur zwei Dingen widersprochen hat: 1. Glaubensinhalten, die entweder eindeutig oder interpretativ (auf Iǧtihād basierend) falsch sind. 2. Unauthentizität: viele seiner Kritiken richten sich gegen Werke, in denen er die Authentizität der Überlieferungen kritisiert hat, welche in diesen Werken vorkamen. Es ging ihm also nie um Personen oder Gruppen oder dergleichen. Sondern vielmehr ging es ihm darum, das Falsche zu widerlegen, was Personen oder Gruppen gedacht oder geglaubt haben. So finden wir Stellen, an denen er Aussagen von Personen kritisiert, die einer Gruppe angehören und auf der anderen Seite Personen lobt, die ebenfalls dieser Gruppe angehören. Er richtet sich demgemäß gar nicht gegen eine Gruppe, sondern gegen Aussagen und Inhalte. Und das Besondere hierbei ist, dass er beim Lob die ganze Person lobt. Wenn er kritisiert, dann nur die Aussagen und Inhalte, die von einer Person kommen, ohne die Person als Person zu kritisieren. Leider finden wir heute noch viele junge Leute, die Ibn Taymiyya als Spielkarte benutzen. Sie nutzen seine Aussagen, um 1. die Personen oder Gruppen zu schmähen, deren Glaubensinhalte Ibn Taymiyya eigentlich nur kritisiert hat und pauschalisieren dann diese Kritik auf alle Personen, die nur annähernd mit dieser Gruppe oder Person in Berührung gekommen sind. 2. die Autoren zu schmähen, deren Werke Ibn Taymiyya bemängelt hat, weil sie teilweise unauthentische Aussagen beinhalten. Es ist also ersichtlich, dass wissenschaftlich und argumentativ differenzierte Vorgehensweisen Ibn Taymiyyas willkürlich benutzt/missbraucht werden, um die eigenen Gelüste und Neigungen zu stillen. Und wenn man damit negativen Gegenwind erfährt, dann tut man Ibn Taymiyya auch noch dieses Unrecht, indem man ihn bei denjenigen schmäht, gegen die man ihn eingesetzt hat. Wir bitten Allāh darum, dass Er der Jugend ein wenig mehr Respekt vor dem Wissen gibt und bitten Ihn, dem Erhabenen und Absoluten darum, Ibn Taymiyya und alle anderen Gelehrten davor zu schützen, durch die Einfältigkeit der ignoranten und sturköpfigen Menschen missbraucht und geschmäht zu werden. Möge Allāh die Gelehrten und all diejenigen, die das Wissen respektieren und weiter tragen, mit Seiner Gnade, Barmherzigkeit, Vergebung und dem Paradies belohnen. Āmīn.

Montag, 7. August 2017

Wir sehen, was wir sehen wollen.

In einer Welt voller Informationen und Wissensquellen ist es für viele ein anstrengendes Vorhaben, die gesunde Mitte selektiv zu erfassen. Daher bilden wir uns zur Vereinfachung einen Maßstab, der unsere Orientierung beim Selektieren anpasst und die Auswahl durch unterbewusste Vorgaben vereinfacht.
Bei dieser Methode schränkt man seine differenzierte Betrachtung zwar ein wenig ein, jedoch ist sie bei einer gesunden Anwendung immer noch ausreichend vorhanden.

Beispiel:
Aus Erfahrung weiß eine Person, dass gewisse Quellen nicht immer ganz sachlich berichten. Er erkennt dahinter eine Gesinnung und schlussfolgert, dass Quellen, die nach dieser Gesinnung handeln, prinzipiell vorsichtig zu handhaben sind. Es ensteht somit eine kritische Distanz ggü. der Quelle und der Gesinnung und man wird vorsichtig, wenn man etwas von dieser Quelle erfährt.

So sagt Allāh der Erhabene im Qurʾān:

"O ihr, die ihr glaubt, wenn ein Frevler euch eine Mitteilung bringt, so vergewissert euch, damit ihr nicht anderen Leuten in Unwissenheit ein Unrecht zufügt und daraufhin bereuen müsst, was ihr getan habt." (Sūrah al-Huǧurāt - Vers 6)

Menschen, die grundlegend unkritisch sind und keine Prinzipien und Überzeugungen besitzen und somit Identitätslücken aufweisen, laufen der Gefahr aus, dass sie von der ersten Quelle, die ihnen schön zuredet, auf ihr Gedankengut gepolt werden können.
Sobald eine Gesinnung ihr Gedankengut in die Köpfe solcher Leute eingepflanzt hat, ist diese Person nun gepolt und nimmt auch die Maßstäbe dieser Gesinnung an, wodurch ggü. anderen Denkweisen und Richtungen eine positive oder negative Haltung entsteht, ohne dass diese Person sich dabei Gedanken darüber gemacht hat. Einzig und allein wird die Haltung dieser Person durch die Vorgaben der Gesinnung bestimmt, welche schnell genug war, um diese Person für sich zu gewinnen, bevor andere Ideen sie erreichen konnten.

Sobald eine Person eine Gesinnung annimmt, bestimmt die Gesinnung den Maßstab dieser Person. Es bedeutet nicht, dass eine Gesinnung automatisch das kritische Denken beseitigt oder die differenzierte Betrachtung einschränkt, sondern es kann auch eine bewusst angenommene Überzeugung sein, die die Schwerpunkte beim Denken und Entscheiden anpasst.
Das Problem, was hierbei entstehen kann, ist eine kognitive Verzerrung, welche sich Bestätigungsfehler nennt. Kognitive Verzerrungen sind Störungen bei der Wahrnehmung einer Person. Es gibt unterschiedliche Störungen, bei der im Denk- und Wahrnehmungsprozess des Menschen andere Schwerpunkte und Neigungen die Urteilskraft der Person beeinflussen.
Der Bestätigungsfehler ist eine Störung, bei der man Informationen so selektiert, dass man unterbewusst die Dinge sucht, die eine vorherige Überzeugung bestätigen.

Beispiel:
Eine Person mag keine Ausländer. Er denkt, dass Ausländer häufiger gewalttätig sind. Sobald er in den Nachrichten hört, dass ein Ausländer gewalttätig war, empfindet er das als eine Bestätigung seiner Annahme. Sollte ein Ausländer in den Nachrichten positiv dargestellt werden, wird dieser Fakt ignoriert und die Überzeugung wird davon nicht berührt und es beginnt keine kritische Durchleuchtung der Überzeugung. Die Person kommt also nicht auf die Idee, differenziert zu denken, weil der Bestätigungsfehler die Wahrnehmung in eine gewisse Richtung neigt.

Bestätigungsfehler bei den Muslimen

1. Ideologischer Bestätigungsfehler
Der Bestätigungsfehler ist einer der häufigsten kognitiven Störungen unter Muslimen. Jede politische, extremistische, radikale oder anderweitig ideologische Bewegung, die sich religiös rechtfertigen möchte, ist mit dieser Störung belastet.
Denn eins haben die meisten dieser Ideologien gemeinsam. Sie haben Quellen, von denen sie sich geistig ernähren und durch die sie sich selbst rein waschen. Sie selektieren Verse, ʾAḥādīṯ und Aussagen der Gelehrten so, dass sie damit ihre Überzeugung stützen können und bilden somit einen religiösen Rahmen, der ihre Überzeugung heiligt.

Dabei sieht man häufig, dass sie von Gelehrten nehmen, deren Bücher und Werke sie nicht als Gesamtheit nehmen und untersuchen, sondern wo sie sich auf einzelne und aus dem Kontext herausgerissene Aussagen berufen. Es wäre also vollkommen egal, wenn der Gelehrte XYZ in seinen Büchern zu 99% etwas sagt, was ihrer Denkweise widerspricht. Sobald 1% in diesen Büchern für ihr Gedankengut hilfreich ist, werden sie sich genau auf diese 1% berufen.

2. Emotionaler Bestätigungsfehler
Dieser Mechanismus kommt häufig bei Personen vor, die traumatische Ereignisse erlebt haben und diese nicht erfolgreich verarbeiten konnten, weil sie zu dieser Zeit keine plausible Erklärung für ihr Leid finden konnten. Dadurch entsteht eine Verzerrung, bei der man eine negative Grundhaltung erzeugt. Der Grund, andere aufgrund von Rasse, Geschlecht oder anderen äußerlichen Faktoren zu hassen, liegt in dieser Art von Verzerrung. Der zuvor angesprochene Rassismus bildet sich nach diesem Muster.

Judenhass, Hass ggü. Andersgläubigen, Hass ggü. Gruppierungen usw. haben oft einen emotionalen Hintergrund. Auch wenn Ideologien gerne diesen Hass vorgeben, ist ihr Ursprung emotional, da sie mit Erfahrungen und Beispielen untermauert werden. 

"Muslime in Palästina werden von den Juden unterdrückt. Die Juden sind unsere Feinde." Solcherlei Gedankengut, der gerne religiös gerechtfertigt wird, ist nichts anderes als eine kognitive Verzerrung, bei der man Ereignisse so wahrnimmt, als ob es keine Alternative gäbe. Genau so, wie nicht jeder Ausländer gewalttätig ist, ist nicht jeder Jude ein Freund der Unterdrückung der Muslime in Palästina. Solche undifferenzierten Schlüsse sind kognitive Verzerrungen, bei denen eine Person in den Nachrichten oder durch andere Medien von Ereignissen erfährt, weswegen sie aus den einzelnen Fällen dann eine Abneigung ggü. der Allgemeinheit entwickelt.

Auch junge Muslime, die Beziehungsprobleme erleben (siehe: Liebeskummer), welche oft in einem Rahmen ablaufen, der die grüne Zone der Religion überschreitet, erzeugen auf ihren Kummer oder ihre Enttäuschung eine Abneigung ggü. äußeren Dingen. Einige entwickeln misanthropische Züge (Misstrauen ggü. Menschen) oder verabscheuen die Dunyā als ein Ort des Leides und der seelischen Folter. Ab dann selektieren sie und suchen unterbewusst nach Gedanken und Strömungen, die diese Auffassung teilen und entwickeln dann aus ihrer emotionalen Störung eine ideologische Neigung.

Lösung des Problems

Wie bei allen psychischen und kognitiven Problemen bedarf es hierbei um individuelle Fall- und Problemanalysen. Der allgemeine Muslim sollte sich einfach dessen bewusst sein, dass er eine grundlegende Distanz ggü. allen Informationen entwickeln sollte. Nichts darf auf der Goldwaage liegen. Jede Auslegung, jede Aussage, jede Information sollte durch den Filter der Abwägung und Untersuchung laufen. Dies ist ein göttlicher Befehl. Überprüft und kontrolliert die Dinge. Ob es die Aussage eines Gelehrten, die Auslegung eines Verses, der Iǧtihād eines Rechtsgelehrten oder andere weltliche Informationen sind: Denkt darüber nach und wägt ab mit der Waage der Vernunft und der Weisheit. 

"O ihr, die ihr glaubt, wenn ein Frevler euch eine Mitteilung bringt, so vergewissert euch, damit ihr nicht anderen Leuten in Unwissenheit ein Unrecht zufügt und daraufhin bereuen müsst, was ihr getan habt." (Sūrah al-Huǧurāt - Vers 6)

Freitag, 2. Juni 2017

Furcht und Hoffnung

Die richtige Vorstellung von Furcht und Hoffnung wird bei den Gelehrten so dargestellt, dass beides gleicherweise notwendig ist. Wenn man ein Gleichgewicht herstellt, erzeugt dies im Herzen die Liebe zu Allāh. Diese beiden Bestandteile greifen jedoch zu unterschiedlichen Zeiten ein: 1. Die Furcht (vor der Sünde): Sie greift dann ein, wenn man eine Versuchung empfindet, aber aus der Furcht vor der Sünde und ihren Konsequenzen davon flieht. 2. Die Furcht (vor der Strafe): Sie greift frühestens dann ein, wenn man in die Sünde gefallen ist und spätestens nach Abschluss der Sünde. Sie führt dazu, dass man direkt während der Sünde damit aufhört und bereut oder nach Abschluss der Sünde schnell reumütig zu Allāh zurückkehrt. Die Furcht bezieht sich darauf, dass man auf der Sünde sterben könnte, ohne bereut zu haben und dies die Strafe für einen bedeuten könnte. 3. Die Hoffnung (auf Vergebung): Sie greift erst nach der Reue ein. Sobald man sich reumütig an Allāh gewendet hat und um Vergebung gebeten hat, hofft man auch, dass Allāh die Sünden vergibt und einen davor beschützt, erneut in die Sünde hineinzufallen. Es ist wichtig, dass die Hoffnung nicht früher eintritt, damit man den Schaden, den man durch die Sünde erreichen kann, so klein wie möglich hält. Wenn die Hoffnung nach der Sünde aber vor der Reue auftritt, kann es dazu führen, dass man die Reue aufschiebt. 4. Die Hoffnung (auf Gunst): Sie greift vor, während und nach guten Taten ein. Sie motiviert dazu, gute Taten zu tun, bei den guten Taten standhaft zu sein und anschließend von Allāh im Diesseits und Jenseits Seine Gunst und Gnade zu erhoffen.

Donnerstag, 18. Mai 2017

Manhaǧ der Salaf oder doch nur Parteilichkeit? #MuslimProblems

Oft hören wir von unterschiedlichen Richtungen, dass sie angeblich dem Manhaǧ (Methode) der Salaf folgen würden. Die Salaf sind die rechtschaffenen Vorfahren, womit die drei Generationen nach dem Propheten Muḥammad, Allāhs Segen und Frieden auf ihm, gemeint sind. Dabei brüstet man sich mit Sprüchen wie "Wir folgen Qurʾān und Sunnah auf dem authentischen Weg der Salaf!" oder andere Floskeln, mit denen man zum Ausdruck bringen möchte, wie authentisch man doch sei.

Wie man anhand meiner Formulierung schon bereits erkennen kann, soll es bei diesem Artikel um eine Problemanalyse gehen. Das Problem nennt sich Trugschluss über die Auffassung, was unter Salaf und ihrem Manhaǧ zu verstehen ist.

Zuerst möchte ich die einzelnen Blickweisen darstellen und erklären, welche Probleme in jeder dieser Blickweisen liegen:

1. Die Rechtschulen: Einige verstehen unter den Salaf die Auffassungen der Rechtschulen bzw. ihrer Gründer.

Problem: Das Problem hierbei ist, dass es unmöglich ist, bei dieser Auffassung den Salaf insgesamt zu folgen. Jede Rechtschule hat zwar einen Gründer, jedoch unterscheidet sich schon die Auffassung eines Gründers über ein Thema im Laufe seines Lebens. Dann gibt es noch das Problem, dass viele Meinungen und Urteile, die uns heute im Namen einer Rechtschule erreichen, von Gelehrten formuliert wurden, die zwar dieser Rechtschule angehört haben, aber sehr viel später gelebt haben.

Mögliche Reaktion: "Aber das meinen wir doch gar nicht. Wir meinen, dass wir der Methode der Salaf folgen, das heißt, worin sich die Rechtschulen einig waren und ihre Fundamente in ihrem Verständnis."

Antwort: Auch darin gibt es sehr viele Unterschiede und Entwicklungen, die in der Zeit der jeweiligen Gelehrten als auch nach ihnen stattgefunden haben. Es gibt also, wenn es um die Rechtschulen geht, keine einheitliche Methode, bei der man behaupten könnte, dass man ihr folgt.

Schluss: Wenn jemand behauptet, dass er den Salaf folgt und damit die Rechtschulen meint, dann ist diese Haltung sehr leichtsinnig und zeugt von Unkenntnis. Wenn man die arabische Sprache beherrscht und sich in die jeweiligen historischen Entwicklungen der Rechtschulen einliest, wird man erkennen, dass man hier keine gemeinsame Methode finden kann und somit auch nicht behaupten kann, dass man DEM "Manhaǧ" der Salaf folgt.

2. Eine Gesinnung: Einige verstehen unter den Salaf dann wiederum eine Gesinnung (Denkweise), die man bei einer Gruppe gelobter und vorzüglicher Gelehrte unter diesen drei Generationen findet.

Problem: Hierbei liegt das Problem schon in der Auffassung. Denn man sucht sich quasi eine gewisse Gesinnung raus und sondert diese von allen anderen ab, die nicht so denken. Dabei schließt man somit alle anderen von den Salaf aus und macht eine exklusive Auswahl, wodurch man aber nicht mehr sagen kann, dass es sich hier um DEN Manhaǧ der Salaf handelt, weil man ja nur einen Manhaǧ von vielen und einige Gelehrte von vielen rausgesucht hat.

Erscheinungsbild in der heutigen Zeit:
Einige dieser Gruppen sind zu vergleichen mit kleinen Kindergartenkindern, denn das ist ihr Niveau in der Vernunft. Da sie idealisiert denken, also eine gewisse Denkweise exklusiv hervorheben, dulden sie nicht, dass man andere Gelehrte von den drei Salaf-Generationen befolgt bzw. von ihrem Wissen profitiert. Genau wie Kindergartenkinder, wenn ihr Spielkamerad im Sandkasten mit jemand anderen spielt, kehren sie den Personen, die von anderen Gelehrten profitieren, den Rücken, weil diese Gelehrten nicht in ihre idealisierte Weltauffassung hineinpassen.

Mögliche Reaktion: "Was für eine Unverschämtheit. Wisst ihr denn nicht, dass es unter den Salaf auch Gelehrte gab, die sich gegenseitig aufgrund ihrer Fehler boykottiert haben. Wollt ihr sagen, dass sie so unvernünftig wie Kindergartenkinder sind?!"

Antwort: Wir fragen dann, ob es eine allgemeine Praxis war, dass man sich boykottiert hat. Wenn wir die Meinungen der Salaf selbst betrachten, so gibt es zum Thema Boykott sehr unterschiedliche Auffassungen. Wenn wir aber die Lebenspraxis der Salaf ansehen, dann war der Boykott eine Sache, die relativ spät angewendet wurde, wenn jede Belehrung und Zurechtweisung nutzlos schien. Darüber hinaus gab es sicher auch Gelehrte, die schnell verurteilt haben und vielleicht den Rücken gekehrt haben, ohne tief nachzudenken. Aber gelobt sei Allāh, der uns vernünftig gemacht hat und uns wissen ließ, dass Gelehrte nicht heilig sind. Wir nehmen und lassen. Was vorzüglich ist, das nehmen wir und wenn wir sehen, dass sie mal affektiv waren und unvorsichtig geurteilt haben, so lassen wir es. Insbesondere wenn es um die Beurteilung von Zeitgenossen geht.

Schluss: Wenn eine Gruppe also eine exklusive Denkweise herausarbeitet und sie als "den Manhaǧ der Salaf" betitelt, so weisen wir dies deutlich als Fehler und törichtes Verhalten ab. Denn es gleicht nichts anderem außer leichtsinniger Parteilichkeit gewissen Gelehrten gegenüber. Dies öffnet die Türen zur Verheiligung und zu falschen Maßstäben, indem man anhand der Haltung einer Person gegenüber bestimmten Gelehrten ermisst, ob man dieser Person positiv oder negativ gegenübersteht.

3. Symbolismus: Unter Symbolismus fasse ich die Einstellung, bei der man oberflächliche Erkennungsmerkmale bzw. Symbole herausarbeitet und sie als den Manhaǧ der Salaf betitelt.

Problem und Erscheinungsbild: Es gibt keine Symbole, an der die "Salafhaftigkeit" der Salaf hevorgearbeitet werden kann. Das Problem bei dieser Denkweise ist, dass der Symbolismus immer als Folgeerscheinung nach einem Lebenswandel kommt. Der eine junge Muslim, der frisch angefangen hat, den Islam zu praktizieren, sucht nun einen Weg, sich symbolisch auszudrücken. Er fängt an, sich arabische Gewänder anzuziehen und wirft sich ein rot-weißes Tuch auf den Kopf, weil er seit einigen Monaten den "wahren Islam" gefunden hat, indem er deutsche Prediger hört, die ihm einiges über das richtige Verständnis vom Islam beigebracht haben, bei dem es keine Neuerungen und Falschheiten gibt. Weil aber alle in diesem Milieu sich gerne so kleiden, denkt dieser junge Grünschnabel, dass eine Verbindung zwischen seiner reinen Lebenspraxis und der Symbolik besteht, mit der sich die Anhänger des "reinen Islams" kennzeichnen.

Schluss: Auch hier liegt das Problem in der Auffassung und der Kenntnis. Die fehlende Kenntnis über die tatsächlichen Umstände, führt zu einer verzerrten Auffassung. Der Islam, den ein motivierter Jugendlicher nun lernen möchte, ist ihm aufgrund seiner fehlenden Sprachkenntnisse nicht gänzlich zugänglich. In seinem Eifer sucht er nach Wissen und findet Prediger. Statt aber ihre Worte als Worte aufzufassen und aus diesen inhaltlich zu lernen, macht er den gewaltigen Fehler, nicht nur die Worte, sondern auch ein ganzes Szenario aufzusaugen und es nun in seinem Leben umzusetzen. 
Hinzu kommt ein eingeschränkter Blick, weil das Wissen in diesem Milieu oft einseitig kommt und keine Möglichkeit besteht, die Pluralität der Salaf zu erfassen. Daher wird ein enger einseitiger Strang an Informationen angenommen und als die einzige richtige Art und Weise der Salaf verstanden.

Da nun die ganzen Probleme dargestellt wurden, ist es wichtig, dass wir einen Weg der Mitte zeichnen, den man annehmen oder auch lassen kann. Jeder sollte sich dessen bewusst sein, dass die Wahrheit nicht in einen Käfig passt. Das heißt, dass die Wahrheit frei ist und nicht von irgendwelchen Gruppen oder exklusiven Gedankengängen eingeschränkt werden kann. Wer nur blind folgt, der sperrt den Vogel der Wahrheit in einen Käfig und wird sie nie in vollem Umfang erleben können.

Ein Versuch zur Darstellung eines goldenen Mittelwegs


Das Wissen ist da, für den, der mit offenem Herzen strebt. Der Herr der Welten, unser geliebter Herr, der Allgnädige (Al-Ġafūr) sagt im Qurʾān:

"Wahrlich, hierin liegt eine Ermahnung für denjenigen, der ein Herz hat oder bei voller Aufmerksamkeit zuhört." (Sūrah Qāf - Vers 37)

Wer sein Herz im Vorhinein in Ketten legt und seine Ohren mit Siegeln versiegelt, die nur das durchlassen, was man im Vorhinein bestimmt hat, der wird nur ein Schaf in einer Herde sein und sich dem ersten Hirten anschließen, der ihn fängt. 

Wem es aber um die Wahrheit geht, der wird sein Herz für die Wahrheit öffnen und seine Ohren nicht abwenden, wenn sie zu ihm kommt.

Daher sagen wir: Die Salaf waren keine Schafe. Sie haben alle individuell nachgedacht und sich angestrengt, um Allāhs Wohlgefallen zu erlangen. Es sind viele Irrwege entstanden und viele Leute sind unter diesem Versuch der Freiheit daran gescheitert. Jetzt könnte man einwenden und sagen, dass doch genau diese Fälle die perfekten Beispiele sind, um nicht frei zu sein und stattdessen ein Schaf zu sein, was sich in einer gemütlichen Höhle der Unwissenheit versteckt. Aber nein! All diese Beispiele von Menschen, die in die Irre gingen, sind ausreichend und zahlreich, damit wir wissen, in welchen Richtungen es gefährlich werden kann. Doch es hält uns nicht davon ab, die Vorzüge und das Wissen von Personen anzunehmen, die in Kritik geraten sind. Denn wer kritisiert wird, ist nicht direkt ein Irregegangener, wie heutzutage einige Personen, in deren Herzen Krankheit ist, behaupten.

Wir nehmen das Wissen, was löblich ist und lassen uns nicht auf zweifelhafte Sachen ein. Wir verschließen unsere Türen nicht, wenn das Wissen kommt und wir untersuchen es, damit wir von jedem Gelehrten, der als ein solcher anerkannt wurde und nach unseren Maßstäben der Wahrheitssuche nicht in absolut falsche Bahnen gekommen ist, lernen und uns von seinem Wissen belehren lassen können.

Denn die Salaf lernten voneinander. Das Wissen kam und wurde ausgelegt und gelernt. Und das ist der wahre Manhaǧ. Das Streben nach der Wahrheit, die Allāh für uns in allgemeiner Form, sein Gesandter in praktischer Form und seine Gefährten in spezifischer Form dargelegt haben.

Wer uns dies verbieten will, schreit aus seiner dunklen Höhle hinauf in das Licht, um uns davon abzuhalten, die uneingeschränkte und von Ideologien und Ignoranz befreite Wahrheit zu erlangen, nur weil es außerhalb der Höhle gefährlich sein kann.

Doch wer mit Allāh, dem Bewahrer (Al-Ḥafīẓ), auf dem Weg der Wahrheit schreitet und im Herzen und im Geiste frei ist, der hat keine Gefahren zu befürchten.

"Wahrlich, mein Herr ist Hüter über alle Dinge." (Sūrah Hūd - Vers 57)



Samstag, 8. April 2017

Haben wir den Tawḥīd eigentlich verstanden? #MuslimProblems

Wenn man sich die Niederschriften der damaligen Gelehrten durchliest und sieht, wie sie zu den Menschen geredet haben, fällt eine Sache besonders auf. Sie waren sehr hart und haben oft die Fehler der Menschen hervorgehoben und sie kritisiert und dennoch kamen die Menschen in Massen angeströmt, um sich dies anzuhören. Warum? Das liegt daran, dass Kritik dazu dient, dass man begreift, was noch verbessert werden muss. Die Menschen wollten kritisiert werden, damit sie einen neuen Reiz dafür haben, sich zu bessern. Der Mensch ist blind und unachtsam und nicht selbstkritisch genug und übersieht daher oft eigene Mängel. Der Prophet, Allāhs Friede und Segen auf ihm sagte:

"Der Gläubige ist dem Gläubigen ein Spiegel." (Abū Dāwūd)

Der Muslim macht seinen Bruder auf schönste Art und Weise auf seine Fehler aufmerksam, damit er diese verbessern kann. Und ein Gelehrter macht die gesamte Masse auf die Fehler der Masse aufmerksam, damit zwar keiner persönlich angesprochen wird, aber diejenigen, die sich angesprochen fühlen, dieses Gefühl bekommen, dass sie sich verbessern sollen, wenn sie die Sitzung des Gelehrten verlassen.

Die Gläubigen haben nach Reizen und Motivationen gesucht, um sich selbst zu bessern. Heutzutage wollen die Muslime nur die anderen verbessern. Dieses Problem wurde schon zuvor angesprochen, wo ich darauf aufmerksam machen wollte, dass die Menschen ihre Probleme immer mit ihrem Islam oder Tawḥīd in Verbindung bringen wollen, was vollkommener Unsinn ist.
In diesem Artikel möchte ich jedoch genauer auf den Tawḥīd eingehen und nach der gängigsten Einteilung erklären, was die einzelnen Kategorien bedeuten und was wir Muslime hierbei oft falsch machen. Tawḥīd bedeutet wortwörtlich "Einzigartigkeit bestätigen". Demgemäß wird im Folgenden erklärt, wie wir Allāh als einzig verstehen müssen und in welche Probleme man fallen kann.

Problem #1: Nachlässigkeit gegen Allāhs ʾUlūhiyya

Die erste Kategorie, in die die Gelehrten den Tawḥīd unterteilt haben heißt Tawḥīd al-ʾUlūhiyya. Diese besagt, dass wir Allāh als einzigen anbedungswürdigen ʾIlāh (Gott) annehmen, indem wir zuerst alle Gottheiten verneinen (Taḫliya) und anschließend Allāh als einzigen ʾIlāh bestätigen (Taḥliya). So sagen wir:

1. Lā ʾIlāha
(keine Gottheit) 2. illAllāh (außer Allāh)

Die ʾUlūhiyya von Allāh beinhaltet, dass Ihm alle Gebete, Bittgebete, Aufopferungen, Hingabe und Liebe gebührt. Das Herz wird von allem anderen befreit und gereinigt und Allāh wird der Einzige, auf den sich all dieses richtet.

Hier könnte das erste Erstaunen entstehen, denn es wurde auch Liebe aufgelistet. Heißt das etwa, dass wir andere Dinge außer Allāh nicht lieben dürfen? Doch, wir dürfen andere Dinge lieben, doch einzig und allein im Lichte Allāhs. Was würde denn passieren, wenn wir Personen oder Dinge eigenständig lieben würden neben Allāh? So wie die Gelehrten sagen, kann das Herz nicht die Liebe zu mehreren Dinge gleichzeitig im Herzen tragen. Deswegen enstehen Konflikte zwischen den geliebten Dingen. Wenn wir eine Person lieben, die Allāh nicht liebt und Ihm ungehorsam ist und sich nicht belehren lässt, dann können wir, wenn wir mit dieser Person zusammen sind, entweder die Liebe zu Allāh im Herzen tragen oder die Liebe zu dieser Person. Machen wir nun, was diese Person von uns will oder was Allāh von uns will? Das müssen wir hier fragen, denn hierin kann jeder die Aufrichtigkeit und Vollständigkeit seiner Liebe zu Allāh überprüfen.

Wer sich also darin findet, wie er aus der Liebe zu dieser Person Allāh ungehorsam wird, der hat gegen die ʾUlūhiyya verstoßen. Das heißt nicht, dass man zu einem Kāfir wurde oder so. Das soll hier keiner aus dem Text entnehmen. Sondern es heißt, dass in diesem Moment der Glaube sehr sehr mangelhaft ist.

Leider haben wir als Muslime die Feinfühligkeit dafür verloren. Oft passiert dieser Mangel bei Beziehungen, die nicht im Lichte Allāhs geführt werden, so wie bereits in diesem Artikel besprochen wurde. Jeder sollte überprüfen, dass er die Menschen und die Dinge für Allāh liebt und dass diese in Seinem Lichte geliebt werden.

Wenn wir Bekannte, Verwandte und Freunde haben, die keine Muslime sind und wir sie dennoch lieben, dann liegt darin kein Problem, wenn man die richtige Einstellung hat. Die Verwandten liebt man in dem Sinne, dass Allāh aufgrund der Blutsverwandtschaft die Liebe in die Herzen gelegt hat und das verstehen wir als eine Liebe im Lichte Allāhs, so wie der Prophet, Allāhs Friede und Segen auf ihm, seinen Onkel Abū Ṭālib geliebt hat, obwohl dieser kein Muslim war.

Darüber hinaus können wir Freunde und Kollegen haben, die keine Muslime sind, aber die wir lieben, weil sie sehr schöne Charaktereigenschaften haben, die islamisch den Muslimen eigentlich anbefohlen sind. So liebt man seinen islamischen Charakter und man würde es lieben, wenn diese Person den Islam annimmt und so pflegt man so eine Freundschaft, die eine Hoffnung in sich trägt, dass man die Person zum Islam führen möge.

Diese Beziehungen sind alle im Lichte Allāhs möglich, wenn wir die richtige Einstellung und Haltung dabei haben. Wenn wir aber sehen, dass bestimmte Beziehung nicht im Lichte Allāhs sind und diese uns offensichtlich in unserer Beziehung zu Allāh einschränken oder sogar schwächen, dann sind solche Beziehungen zu vermeiden bzw. sollten nicht gepflegt werden, außer es sind verbindliche Beziehungen wie die Verwandschaftsbeziehung.

Problem #2: Verstoß gegen Allāhs Rubūbiyya

Die zweite Kategorie nennt sich Tawḥīd ar-Rubūbiyya, bei der wir als Gläubige die Einheit Allāhs darin bestätigen, dass Er die Quelle jeder Macht und Kraft ist. Wir verneinen jede Macht und Kraft (Taḫliya) und sprechen sie einzig Allāh zu (Taḥliya), indem wir sagen:

1. Lā Ḥawla wa lā Quwwata (keine Macht oder Kraft) 2. illā billāh (außer bei/durch Allāh)

Die Rubūbiyya Allāhs beinhaltet, dass jede Wirkung nur durch Allāhs Willen zustande kommt. Die Bewegung der Planeten, der Wechsel von Tag und Nacht, das Wachsen der Pflanzen, die Bewegungen der Tierwelt und alles andere an Bewegungen und Wirkungen, die von der Schöpfung ausgeht, kommen nur dadurch zustande, indem Allāh eine allgemeine Befähigung und Erlaubnis dafür gewährt.

Das erste Problem entsteht hier bei den sogenannten ʿĀdāt (Regelmäßigkeiten). Die ʿĀdāt beschreiben die allgemeine und natürliche Regel einer Sache. Als einfaches Beispiel nehmen wir das Messer. Wenn es geschliffen wird, dann schneidet es. Das Schneiden ist eine Wirkung, die in der Regel davon ausgeht. Wir Menschen richten unser ganzes Leben und unsere Wissenschaften nach dem Regelfall aus. Das ist normal und auch nicht falsch. Doch wir vergessen, dass der Regelfall nicht selbstverständlich ist. So wissen wir, dass in der Geschichte vom Propheten ʾIbrāhīm, Allāhs Friede auf ihm, das Messer nicht geschnitten hat, als ʾIbrāhīm seinen Sohn ʾIsmāʿīl für Allāh aufopfern wollte.

Das Problem liegt nun darin, dass wir aus Gewohnheit den Regeln die jeweilige Kraft und Macht zuschreiben. Wir vergessen, dass jeder Regelfall nur aufgrund Allāhs Willen zustande kommt. Dadurch kann es sein, dass wir den ʿĀdāt zu viel vertrauen und uns zu sehr auf sie verlassen, so dass Allāh plötzlich in den Hintergrund rückt und wir unseren Erfolg und unsere Wirkung nicht mehr von Allāh abhängig machen, sondern von den ʿĀdāt.

Das zweite Problem ensteht bei den sogenannten ʾAsbāb (Mitteln). Die ʾAsbāb sind die vielen logischen Glieder in einer Ursachenkette, die eine Sache zustande bringen. Einfaches Beispiel: Der Arbeiter arbeitet für den Arbeitgeber und dafür bekommt der Arbeiter seinen Lohn. In dieser Kette sind drei Glieder. Arbeiter, Arbeit und Arbeitgeber. Der Arbeiter ist das Mittel (Sabab), weswegen die Arbeit erledigt wird. Und die Arbeit ist das Mittel (Sabab), warum der Arbeitgeber den Lohn auszahlt.

Das ist auch eine Regelmäßigkeit, die für uns ganz selbstverständlich ist. Das Problem was hier aber ensteht ist, dass wir den eigentlichen Verursacher (Musabbib), also unseren Herrn Allāh, den Erhabenen und Gepriesenen, außer acht lassen können. Weil wir daran gewohnt sind, dass der Arbeitgeber das Geld auszahlt, denken wir, dass der Arbeitgeber der Versorger ist. Wobei einzig und allein Allāh Ar-Razzāq, also der Versorger ist.

Wie ist also das Verhältnis zwischen ʾAsbāb (Mittel) und Musabbib (Verursacher) zu verstehen? Da wir hier von Tawḥīd reden, müssen wir hervorheben, worin wir Allāh nun als einzig begreifen müssen. Die Einzigartigkeit hierin liegt darin, dass Er derjenige ist, der sich im Qurʾān mit folgender Eigenschaft beschreibt:

"Und Allāh ist der beste Planschmied." (Sūrah ʾĀli ʿImrān - Vers 54)

Allāh ist Ḫayrul-Mākirīn. Der beste Planschmied. Er ist derjenige, der die ʾAsbāb ordnet und aneinandereiht. Er ist derjenige, der Türen öffnet und schließt. Er ist derjenige, der für jeden einzelnen einen Plan schmiedet und Gelegenheiten schafft und Auswege gewährt. Er hat die Herzen in Seiner Hand und lenkt die Gemüter der Menschen, wie Er möchte.

"Und ihr könnt nur wollen, wenn Allāh will. Wahrlich, Allāh ist Allwissend (ʿAlīm), Allweise (Ḥakīm)." (Sūrah al-ʾInsān - Vers 30)

Wenn wir begreifen und verstehen, dass die ganzen ʾAsbāb in Allāhs Hand liegen und dass die Dinge entsprechend Seiner Bestimmung ihren Lauf nehmen, dann wird letztendlich deutlich, dass nicht irgend ein Arbeitgeber zufriedenzustellen ist, sondern einzig und allein der Herr der Welten, in dessen Hand alles liegt.

So wäre es grauenhaft verkehrt, wenn man denkt, dass man in der Not die verbotenen ʾAsbāb aufsucht, um sein Geld zu verdienen. So wäre es töricht, dass man denkt, man müsse in seinem Laden Alkohol verkaufen, weil es Kundschaft bringt. Es wäre lächerlich, wenn man anfängt, mit verbotenen Dingen Geschäfte zu machen, nur weil man Geld braucht.

Wenn man dies begreift, dann werden alle ʾAsbāb unwichtig. Denn es gibt ein Treibstoff, der alle ʾAsbāb in Bewegung setzt. Dieser Treibstoff nennt sich die Zufreidenheit Allāhs (Riḍallāh)!

Wenn wir uns in unserem Leben danach ausrichten, einzig und allein die Zufriedenheit Allāhs zu erlangen, dann werden wir die ʾAsbāb überwunden haben. Die ʾAsbāb zu überwinden heißt, dass man sie loslässt und sich von ihnen unabhängig macht. Der Gläubige weiß, dass er einzig und allein von Allāh abhängig ist und dass Er der Musabbib ist, der die Dinge regelt und ordnet, wie Er will.

Viele machen den Fehler, dass die die ʾAsbāb erzwingen wollen. Sie klammern sich an den Mitteln und wollen unbedingt, dass sie zustande kommen und setzen alle ihre Kräfte dafür ein. Dadurch versucht man, selber der Musabbib zu sein und dies ist der Mangel, den man im Tawḥīd ar-Rubūbiyya haben kann. Wenn wir versuchen, die Pläne zu schmieden und die ʾAsbāb zu erzwingen, dann werden wir von Kummer und Enttäuschung eingeholt, denn Allāhs Plan setzt sich durch und wenn unser Plan im Weg ist, dann gibt es kein Erbarmen.

Wenn man sich aber Allāh hingibt, dann ist es egal, welche ʾAsbāb nun auftreten und über welche Wege Allāh die Dinge zustande bringt. Man selbst ist nämlich flexibel und frei und schwimmt in der Gunst Allāhs und gibt sich Seiner Bestimmung hin.

Dies zu begreifen ist wahrlich gewaltig. Aber wer es begreift, der hat eine innere Ruhe und Freiheit, die nicht zu beschreiben ist.

Natürlich heißt es nicht, dass wir in unserem Leben nichts planen sollen. Jeder sollte Pläne und Orientierungspunkte haben. Aber dennoch so, dass man bescheiden ist und die Möglichkeit ins Auge fasst, dass die Dinge sich jeder Zeit ändern können. Man muss flexibel sein und Allāhs Fügungen akzeptieren, wenn sie nun einmal so ausgerichtet sind, dass unsere früheren Pläne nicht mehr umgesetzt werden können.

Problem #3: Die Unwissenheit gegenüber Allāhs Namen und Eigenschaften

Die dritte Kategorie des Tawḥīds ist Tawḥīd al-ʾAsmāʾ waṣ-Ṣifāt. Der Tawḥīd der Namen und der Eigenschaften Allāhs.

Hierin liegt das größte Problem darin, dass die meisten Muslime gar nicht wissen, wer und wie Allāh wirklich ist. Es ist essentiell für unsere Gebete und Gottesdienste, dass wir Allāh kennen. Wir müssen logischerweise wissen, wen wir überhaupt anbeten und wem wir dienen.

Wer Allāh nicht kennt, der kann Ihn nicht richtig einschätzen und daher auch keine vollständige Hingabe, Liebe und Ehrfurcht Ihm gegenüber empfinden. Daher müssen wir wissen, wie Allāh ist, indem wir Sein Buch lesen und schauen, wie Er sich selbst beschrieben hat.

"Sprich: 'Bittet Allāh oder bittet den Allerbarmer (Ar-Raḥmān) - bei welchem (Namen) Ihr (auch) bittet, Ihm stehen die Schönsten Namen zu.' " (Sūrah al-ʾIsrāʾ - Vers 110)

"Er ist Allāh, außer Dem es keinen Gott gibt; Er ist der Kenner des Verborgenen und des Sichtbaren (ʿĀlim al-Ġayb waš-Šahād). 
Er ist der Allerbarmer (Ar-Raḥmān), 
der Barmherzige (Ar-Raḥīm). 
Er ist Allāh, außer Dem es keinen Gott gibt; 
Er ist der Herrscher (Al-Malik), 
der Einzig Heilige (Al-Quddūs), 
der Friede (As-Salām), 
der Verleiher von Sicherheit (Al-Muʾmin), 
der Überwacher (Al-Muhaymin), 
der Allmächtige (Al-ʿAzīz), 
der Unterwerfer (Al-Ǧabbār), 
der Erhabene (Al-Mutakabbir). 
Gepriesen sei Allāh über all das, was sie (Ihm) beigesellen.
Er ist Allāh, der Schöpfer (Al-Ḫāliq), 
der Bildner (Al-Bāriʾ), 
der Gestalter (Al-Muṣawwir). 
Ihm stehen die Schönsten Namen zu. 
Alles, was in den Himmeln und auf Erden ist, preist Ihn, und Er ist 
der Erhabene (Al-ʿAzīz), 
der Allweise (Al-Ḥakīm)."
(Sūrah al-Ḥašr - Verse 22-24)

Freitag, 17. März 2017

Weißt du eigentlich, wer du bist?

Wenn es um die Identität geht, wissen viele immer schnell einiges über sich zu berichten. Doch das Problem hierbei ist, dass viele bei ihrer Identität nur die Was-Frage beantworten können, aber nicht die Wer-Frage.

Was bin ich? Ich bin Muslim. Ich bin Anhänger dieser Gruppe. Ich bin Schüler dieses Gelehrten. Ich bin der Freund/die Freundin von Soundso. Ich bin der Mitarbeiter bei Firma X. Ich bin der Sohn, die Tochter usw.

Jeder definiert sich durch die Beziehungen die er hat. Dadurch, dass wir bewusste Diener Allāhs sind, sagen wir, dass wir Muslime sind. Doch für viele Menschen ist dieses Was, wenn es um ihren Islam geht sehr leer, wären da nicht die Grenzen.
Heutzutage definieren sich viele aktive und junge Muslime nicht durch Inhalte, sondern durch Grenzen. Das heißt, dass man sich abgrenzt und sagt, was man nicht ist, statt zu sagen, was man ist. Es bilden sich viele Gruppierungen, die ein revolutionäres Verständnis der Lossagung (Al-Barāʾ) entwickeln und sich von allem lossagen, bis sie einen Rahmen finden, wo sie am Ende sagen können: "Ich und meinesgleichen ist mit mir in diesem Rahmen und alle, die nicht so sind wie ich, habe ich von mir getrennt, indem ich mich von ihnen losgesagt habe."

Doch hier ensteht ein Problem. Dieses Konstrukt ist meistens nichts anderes als ein inhaltsloses Gehäuse. Man hat zwar schön alle Grenzen nach außen definiert, kann sich aber selbst nicht definieren. Man hat sich einer Gruppierung oder Ideologie angeschlossen, damit man seine Identität etwas konkretisieren kann, aber leider hat man daneben geschossen, indem man nichts zu der eigenen Identität hinzugewonnen hat. Man hat bloß festgestellt, mit wem man nicht mehr sympathisieren möchte.

Diese Trug-Identitäten verbreiten sich sehr schnell und insbesondere unter Jugendlichen. Man sieht Prediger in verschiedenen muslimischen und nichtmuslimischen Ländern, die dadurch bekannt werden, dass sie an jedem anderen Prediger oder Gelehrten etwas auszusetzen haben. "Der Prediger Soundso hat sich positiv gegenüber der Demokratie geäußert. Er ist fürwahr ein Irregegangener." oder spektakuläre Überschriften wie "Eine perfekte Antwort auf den Imam Soundso"

Diese Einstellung ensteht durch das Problem, das schon im letzten Artikel besprochen wurde. Es geht darum, dass man eine einfache Lösung möchte. Die Jugendlichen, die in einer Umgebung groß werden, in denen Religion mit Kultur und allen möglichen Dingen gemischt wird, möchten eine klare Wahrheit. Deswegen neigen sie zu diesen Predigern, die sich damit beschäftigen einen exklusiven Islam für sie herauszuarbeiten. Einen Tawḥīd 2.0 wenn man will. Genauso ergeht es den noch extremer orientierten Geschwistern, die sich lieber mit dem Titel Muwaḥḥid anstelle von Muslim betiteln, weil Muslim zu sein viel zu einfach ist und sie daher ein exklusives Label benötigen.

Man kann nur traurig werden, wenn man diesen Zustand der Jugendlichen sieht. Der Islam, der als einer der grundlegenden Prinzipien die Brüderlichkeit und die Einigung vorschreibt, wird mit den Füßen getreten, indem man sich durch Absonderung und Lossagung als eine Elite verstehen will.

Allāh, der Bewahrer (Al-Wakīl) sagt im Qurʾān:

"Die Gläubigen sind ja Brüder. So stiftet Frieden zwischen euren Brüdern und fürchtet Allah, auf dass euch Barmherzigkeit erwiesen werde." (Sūrah al-Ḥuǧurāt - Vers 10)

Unser Antrieb muss die Versöhnung sein und nicht die Lossagung. Es ist klar, dass die Lossagung vom Unglauben (Kufr) und von der Beigesellung (Širk) eine Grundlage unseres Glaubens ist. Doch heißt das nicht, dass wir in komplizierten Fragestellungen, wie Politik, Gesellschaft, Aqīda usw. einfache Urteile erzeugen, durch die wir unsere Brüderlichkeit aufgeben.

Diejenigen, die sich hierin deutlich irren und von denen ich vorher sprach, also diese postmoderne Erscheinung von Lossage-Predigern mit besonderem Tawḥīd-Verständnis, denken, dass sie edel und gesegnet sind wie Ibrāhīm ʿalayhi s-Salām, so dass sie sich erlauben, die modernen Götzen zu definieren, um sie dann mit harten Widerlegungen zu zerhauen. Sie beantworten komplizierte Fragen so simpel, als ob sie gerade danach befragt wurden, wie viel Gebetseinheiten das Maġrib-Gebet hat.
Sie nehmen sich Geschichten aus der Zeit des Propheten und nutzen diese, um ihre harte Einstellung zu rechtfertigen. Sie lassen einen Teil der Sunnah und nehmen den anderen Teil. Sie verdecken den einen Teil der Wahrheit und zeigen die andere Hälfte.

"Diejenigen, die das verbergen, was Wir von den klaren Beweisen und der Rechtleitung herabgesandt haben, nachdem Wir es den Menschen im Buch erklärt hatten, diese verflucht Allāh, und diese verfluchen auch die Fluchenden." (Sūrah al-Baqara - Vers 159)

Ein gefährliches Spiel spielen diese Prediger, deren Halbwissen groß und deren Zungen lang sind. Wenn sie aufgrund ihrer Härte dann von der Regierung beobachtet oder ins Gefängnis gebracht werden, sieht man ihre Anhänger enttäuscht aber gleichzeitig ermutigt. Denn sie denken, dass einzig die Wahrheit bekämpft wird und sie sehen ihre Falschheit dadurch bestätigt, dass ihre Prediger gefangen genommen wurden.

Keine Frage. Es gibt genug Gelehrte und Prediger, die zu Unrecht in Gefangenschaft genommen werden. Dies soll hier keinesfalls relativiert werden. Jedoch sollte man bedenken, wen man in diese Richtung einstuft. Die Gelehrten und Prediger der Mitte, der Weisheit, der Milde, des tiefen Wissens sind diese, die man zu Unrecht ins Gefängnis steckt. Doch diejenigen Prediger, die aufgrund ihrer Härte und aufgrund der Feindschaft, die sie unter den Muslimen stiften, solche Konsequenzen erleben, sollen sich nicht selbst betrügen, indem sie denken, dass dies eine gnadenvolle Prüfung von Allāh sei.

Vielmehr ist dies eine Ermahnung, auf dass sie zurückkehren:
"Unheil ist auf dem Festland und auf dem Meer sichtbar geworden aufgrunddessen, was die Hände der Menschen erworben haben, auf dass Er (Allāh) sie die (Früchte) so mancher ihrer Handlungen kosten lasse, damit sie (zur Wahrheit) zurückkehren." (Sūrah ar-Rūm - Vers 41)

Kommen wir nun zurück zu der Frage nach der Identität. Die Frage nach dem Was ist also dadurch zu klären, indem wir unsere Rollen bestimmen. Wie ist nun die Frage nach dem Wer zu beantworten?

Dies ist etwas komplizierter. Denn sich selbst zu begreifen, also zu reflektieren, reicht aus, um sich z. B. als Muslim oder als Teilnehmer an der Gesellschaft oder wie auch immer, zu begreifen. Es reicht aus, um zu verstehen, was man ist und in welchem Rahmen man es ist.

Bei der Reflektion geht man aus sich raus und beurteilt sich selbst von außen. Die Rolle, die wir dabei erfüllen erkennen wir einzig durch die Reflektion. Doch es kann noch weiter gehen. Wir können die Reflektion nochmal reflektieren. Das heißt, wir betrachten uns nicht mehr in unseren Rollen und in einem bestimmten Rahmen, sondern verlassen diesen Rahmen. Wenn man das erfolgreich gemacht hat, wird man begreifen, dass einzig und allein die wahre Identität dadurch mit Inhalt gefüllt wird, indem wir unsere Beziehung zu Allāh mit Inhalt füllen.

Lasst mich das etwas einfacher ausdrücken:

Wenn man gestorben ist und das Weltliche als auch die anderen Geschöpfe keine Bedeutung mehr haben und man am Jüngsten Tag einzig und allein vor Allāh steht, dann zählt nur noch das, was man dort vorweisen kann. Wenn wir in der Welt versuchen, diese Einstellung zu erreichen, dass wir einzig und allein nur mit Allāh eine richtige Beziehung führen und alles andere nur funktional für die weltlichen Umstände von Bedeutung ist, dann haben wir die zweifache Reflektion erlebt und sind nun in der Lage zu sagen, Wer wir sind. Unsere Beziehung zu Allāh definiert unser eigenes selbst. Wenn wir diese individuelle Beziehung begreifen, können wir ein wahres Selbstwertgefühl entwickeln. Wenn wir dies nie machen, wird unsere Identität nur von den Rahmen und Beziehungen abhängig sein, in denen wir uns befinden.

Deswegen ist es ein Ausdruck wahrer Gottesfurcht und Gottesliebe, wie die Gelehrten sagen, wenn wir in der stillen Einsamkeit unser Verhältnis zu Allāh begreifen und pflegen. Wer in der stillen Einsamkeit versteht, wer er ist und wie seine Beziehung zu Allāh ist, der hat eine wahre Identität, mit der er die wahre Gottesnähe erreichen kann.

Sonntag, 26. Februar 2017

"Wir haben euch zu einer Gemeinde der Mitte gemacht..."

Das Abmühen, für mich die am besten geeignete Übersetzung für das Wort Ǧihād (جِهَاد), ist eine Pflicht für jeden Muslim. Warum wird der Begriff Ǧihād an erster Stelle für den kriegerischen Kampf verwendet? Das liegt daran, dass im Krieg die größte Form des Abmühens vorzufinden ist. Man setzt sein Leben aufs Spiel und ist bereit, für diesen Einsatz zu sterben. 

Wenn man die Biografien der Prophetengefährten liest, sieht man den besonderen Eifer der Gefährten darin, im Kampf kämpfen zu wollen. Die Absicht bei einem Kampf ist der Sieg. Nicht der Tod. Der Tod ist nicht wünschenswert an erster Stelle, sondern eine Kompensation im Falle dessen, dass man bei seiner Bemühung sein Leben verliert. Der eigentliche Sinn des Kampfes ist es, eine Sache voranzubringen, sich für eine Sache einzusetzen. Und genau um diesen essentiellen Teil soll es im Folgenden gehen.

Wenn etwas diese Ummah heimsucht, dann ist es das Verfehlen der Mitte (Al-Waṣaṭ), so wie Allāh, der Schöpfer (Al-Ḫāliq) und Gestalter (Al-Muṣawwir) im Qurʾān sagt:

"Und so machten wir aus euch eine Gemeinschaft der Mitte (Al-Waṣaṭ)" (Sūrah al-Baqara - Vers 143)

Die Muslime pendeln immer zwischen zwei Extremen. Die Identitätslosigkeit der Muslime begünstigst die Entstehung von Terrorgruppen in Krisengebieten, woraufhin die Muslime, die unter den Nichtmuslimen im Frieden leben, oft dazu geneigt sind, ihre Religion so liberal wie möglich zu präsentieren, um der Welt beweisen zu können, dass der Islam nichts mit Terrorismus zu tun hat.

Die einen übertreiben in der Strenge und die anderen lockern zu viel, aber die meisten schaffen es nicht, die gerade Mitte zu treffen. Der Grund liegt darin, dass die Menschen nicht einsehen können, dass die eigentliche Mitte Vernunft und Anstrengung auf eigener Faust bedarf. Man muss wie ein Prophet Verantwortung übernehmen und selbstständig denken und bereit sein, sich für die Wahrheit abzumühen. 

Hier möchte ich die ersten zwei Extreme darstellen:

1. Die Identitätslosen, die in irgendwelchen Terrorgruppen oder Ideologien ihren Selbstwertkomplex mit künstlichem Zusammenhalt und gegenseitiger Bestätigung zu kompensieren versuchen, meiden die Mitte, weil sie dann reine und eigenständige Identitäten werden müssten. Sie genießen in ihrer persönlichen Unsicherheit aber den Zusammenhalt in Gruppen und ebenfalls die Vorgabe von ideologischen Dingen, an die man  glauben soll. Man möchte ein Schaf in einer Herde sein und irgendwas durchziehen, was man nicht ganz verstanden hat, aber es auf jeden Fall gut klingt, weil alle sagen, dass es was Gutes ist.

2. Die Liberalen hingegen zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht viel Ahnung von ihrer Religion haben und ihr religiöses Bewusstsein davon abhängig machen, was die Gesellschaft für Eindrücke zu haben scheint. Demgemäß wird der Islam nicht genuin ausgelebt, wie er ausgelebt werden soll, sondern angepasst, entsprechend der Richtung, in die man durch seinen Auftritt von den Menschen wahrgenommen werden will.
Wesentlich für diese Art ist der verzweifelte Versuch, den Islam mit aktuellen Tagesthemen zu versöhnen. Der Islam wird verbogen und gedehnt, damit die Gesellschaft, in der man lebt, kein Unbehagen mit dem Islam empfindet.

Während die Identitätslosen den Drang haben, so anders wie möglich zu sein von allen anderen, haben die Liberalen den Drang so gleich wie möglich zu sein mit allen anderen.

Die gesunde Mitte wäre ein pragmatisches Selbstbewusstsein über den eigenen Islam. Jeder muss wissen, wer er ist und wofür er steht. Und wenn er Überzeugungen hat, die sich nicht mit den gängigen Alltagsthemen der nichtmuslimisch geprägten Gesellschaften versöhnen lassen, so weiß solch ein Muslim, wie er geschmeidig und reibungslos seine Meinung beibehalten kann, ohne die gesellschaftliche Ordnung damit zu stören und ohne sie irgendjemanden aufzuzwingen. Ambivalenz (Zwiespalt) und Ambiguität (Mehrdeutigkeit) waren für die vernünftigen muslimischen Rechtsgelehrten nie Grund, um die Gesellschaften zu spalten. Jeder muss wissen, wie er das beibehalten kann, wovon er überzeugt ist, ohne die Ordnung der anderen Gesellschaftsteilnehmer zu stören.

Doch das ist den meisten leider zu anstrengend, weil dann müsste man ja lernen und wissen, wie man genau ein guter Muslim wird, wie man sich benehmen muss gegenüber anderen, die nicht so denken wie man selbst usw. Man müsste an sich selbst arbeiten und wer will das schon? Die meisten wollen eine einfache homogene Gesellschaft, wo jeder so denken soll, wie man selbst, weil es kann keine mehreren Wahrheiten geben und weil man halt nicht so genau weiß, warum die eigene Wahrheit die einzige Wahrheit ist, tut es einem schwer, dass andere Menschen mit anderen "Wahrheiten" nun einem die innere Ruhe rauben. Ironisch ausgedrückt, aber der Sinn sollte klar sein. Und damit kommen wir zu den nächsten Extremen.

1. Die Leichtfertigen und Faulen sind jene, aus der die Kategorie der Drückeberger (Arbeitsverweigerer) gebildet wird.

a. Die Leichtfertigen sind jene, die das Paradies wollen und die Religion zu lieben behaupten. Sie trauern um die Muslime und hassen die Ungerechten. Einige von ihnen, die besonders viel Frust auf die Menschheit haben, träumen davon, dass sie in den Krieg ziehen und eine Kugel abbekommen, um als Märtyrer von dieser schmutzigen und ungerechten Welt fernzukommen. Sie beschweren sich darüber, dass Gelehrte in den Gefängnissen sitzen und beschreiben diese Welt mit Zitaten vom Propheten, Friede und Segen auf ihm, und anderen großen Persönlichkeiten des Islams, dass diese Welt ein Gefängnis und ein übler Ort ist usw. 
Das Problem hierbei ist jedoch, dass der Prophet und diese großen Persönlichkeiten, obwohl sie das alles gesagt haben, fleißige Menschen gewesen sind, die ihr Leben lang bis ins hohe Alter für eine Sache kontinuierlich im Einsatz gewesen sind. Sie hatten Frauen und Kinder, Familie und Freunde. Sie lebten unter Menschen, agierten unter Menschen und waren Menschen ihrer Gesellschaften und haben sich jeden Tag für ihre Überzeugung auf ganz nützliche Weise abgemüht.
Die Leichtfertigen identifizieren ihre eigenen Probleme, ihre Verzweiflungen, ihr Selbstmitleid und ihre Hoffnungslosigkeit mit den Aussagen dieser wertvollen Personen und suchen Trost darin, indem sie sagen "Ach schau, sogar der Prophet/der Gefährte/der Gelehrte usw. sagen, dass diese Welt ein Gefängnis und ein schlechter Ort ist. Das erklärt, warum es mir hier so schlecht geht."

b. Die Faulen sind ganz einfach ausgedrückt diejenigen, die den ganzen Tag träumen, viel zu erreichen, aber nie was erreichen, weil ihnen das zu anstrengend wird. "Ich würde so gern ein Gelehrter sein." / "Ich würde gern ein Ḥāfiẓ sein." / "Ich würde gerne dies und jenes erreichen." usw.
Ich werde ihren Zustand nicht bewerten, aber mit folgendem Satz kommentieren: "Wer will, der tut."
Wichtig ist jedoch zu wissen, dass der Ǧihād hier nochmal besonders zur Geltung kommen sollte. Denn diese Dinge zu wollen gleicht nicht, diese Dinge zu haben. So sollten wir dies auch im Bezug auf das Paradies bedenken. Das Paradies zu wollen ist nicht gleich wie das Paradies schon zu haben. Und das Paradies wird einem nicht einfach so geschenkt, sondern bedarf der Abmühung.

2. Die Übereifrigen sind das Gegenextrem. Es sind jene mit kurzzeitigen Power-Schüben, die nach kurzer Zeit schnell ihr Ende finden. Ebenfalls gehören auch diejenigen zu dieser Gruppe, die halt irgendwo in den Krieg ziehen oder irgendwas Großes zu erreichen versuchen, ohne viel Kopf und Verstand. Sie wollen einfach darauf losstürmen und irgendwas machen. Es geht nicht darum, was und wie richtig es ist, es geht darum, dass ihr Tatendrang befriedigt wird. Es sind jene, die sich beeilen und keine Grenzen kennen.

So sagt der Allwissen (Al-ʿAlīm) im Qurʾān:

"Doch nein! Ihr liebt die Eile und vernachlässigt das Jenseits." (Sūrah al-Qiyāma - Verse 20 und 21)

"Sie sind es, die die Eile lieben und den Tag vernachlässigen, der hinterher auf ihnen lastet." (Sūral Al-ʾInsān - Vers 27)

Mit Eile ist der Wunsch nach schnellen Resultaten gemeint. Und das ist ein Merkmal dieses Extrems. Man will etwas ganz schnell erreichen. Alle Probleme sollen ganz schnell beseitigt werden. Alles ist einfach und alle Probleme können beseitigt werden, wenn man ganz schnell etwas macht. Dies ist auch der große Trugschluss derjenigen, die denken, dass alle Probleme beseitigt wären, wenn ein bestimmter Diktator gestürzt oder alle Ausländer vertrieben werden würden.

Was wäre bei diesen zwei Extremen die gesunde Mitte? Es ist die Langatmigkeit. Man muss pragmatisch und realistisch sein. Wer etwas erreichen will, sollte sich dessen bewusst sein, was er auf sich nehmen muss, um es zu erreichen. Man muss Pläne schmieden, Vorbereitungen treffen und sich bewusst werden, dass man große Dinge nur auf langfristiger Ebene erreichen kann. Dafür benötigt es einen langen Atem und Durchhaltekraft. Die Eroberung Makkas geschah erst 20 Jahre später, nachdem die Botschaft den Propheten, Friede und Segen auf ihm, erreicht hat.

Wir müssen ein Vorbild im Propheten sehen. Nicht in einzelnen partikulären Taten, sondern in seiner Gesamtheit. Sunnah bedeutet nicht eine handvoll Taten, die man nachahmt, sondern Methodik. Allāh, der Allweise (Al-Ḥakīm) spricht im Qurʾān an verschiedenen Stellen über seine eigene Sunnah, mit der Er seine Art und Weise meint, wie er mit den Menschen umgeht. Denn die konkrete Art, wie Allāh mit allen Völkern im Einzelnen umgegangen ist, unterscheidet sich. Doch seine Sunnah ändert sich nicht, wie Er selbst im Qurʾān sagt:

"Du wirst in Allāhs Methode/Vorgehensweise keine Veränderung finden; und du wirst in Allāhs Methode/Vorgehensweise  keinen Wechsel finden." (Sūrah Al-Fāṭir - Vers 43)

"Dies ist Allāhs Methode/Vorgehensweise, wie sie zuvor schon ergangen ist; und du wirst in Allāhs Methode/Vorgehensweise keine Veränderung finden." (Sūrah Al-Fatḥ - Vers 23)

So wie Allāhs Sunnah (Sunnatullāh) sich in den einzelnen Fällen anders zum Ausdruck brachte, aber von der Methode her gleich geblieben ist, ist die Sunnah des Propheten nicht die bloße Nachahmung konkreter Handlungen, sondern die Übernahme seiner ganzen Handlungs- und Denkmentalität. Und diese Vorgehensweise des Propheten ist seinem ganzen Leben als Gesamtheit zu entnehmen. Als Vorbild, wie man als Gläubige des Wegs der Mitte (Ṣirāṭ al-Mustaqīm) und als Mitglied der Gemeinde der Mitte (Ummatan waṣaṭā) zu leben hat.

Ohne Übertreibung und ohne Untertreibung. Ohne Träumerei, Faulheit oder leichtsinnigem Übereifer. Als sich selbst begreifende und bewusste Muslime, die ihr Leben, ihre Gedanken und ihre Taten im Griff haben. Dies ist, was es anzustreben gilt.

Und bei Allāh liegt der Erfolg.

Freitag, 27. Januar 2017

Bescheidenheit und Respekt vor dem Wissen

Wenn wir die unterschiedlichen Zeiten und Generationen der islamischen Geschichte betrachten, können wir erkennen, dass zu jeder Zeit gewisse Probleme vorhanden waren. Dazu gehören Streitigkeiten unter den Gelehrten und aber auch das häufige Auftreten von Besserwissern und streitsüchtigen Parteien, die nicht zu der Ebene der Gelehrten zählten.
Natürlich erreichten uns viele fruchtbare Taten und Werke jeder Generation und überdauerten diese Probleme, was darauf hindeutet, dass die Hingabe zur Religion dauerhaft vorhanden war und sich neben allen niedrigen Konflikten und Streitigkeiten dennoch durchsetzen konnte.

Während die Streitigkeiten unter den Gelehrten teils unangenehme Züge haben konnten, fanden die meisten dennoch in einem guten Rahmen statt, in denen die Gelehrten ihre Positionen untereinander kritisierten, ohne sich zu schmähen oder sogar wenn es zu einer tieferen Kritik kam, die Brüderlichkeit nicht vergaßen, so wie der Šāfiitische Gelehrte ʿAbū Nuʿaym al-ʾIṣfahānī in seinem Werk Ḥilyat al-ʾAwliyāʾ die Lage der Gelehrten beschreibt.

Interessant wird aber der zweite Aspekt, den ich am Anfang erwähnt habe und zwar das Auftreten von Besserwissern, die keine Gelehrten waren und sich dennoch so aufdringlich ausdrückten, als ob sie diese Stellung besäßen. Dies kommentieren einige Gelehrten in Verbindung mit der Erscheinung schlechter Verhaltenszüge oder dem Verlust der Priorität auf gute Verhaltenszüge. 

Wir erfahren von diesem Zerfall der Tugenden aus allen Generationen und sogar von den Zeiten der früheren großen Gelehrten. So sagt der große Zāhid (Asket) Abū ʿAbdullāh al-Muḥāsibi, der in der Zeit vom Imām Aḥmad Ibn Ḥanbal gelebt und gemeinsam mit ihm gegen die Muʿtazila vorangegangen ist, dass seine asketische Neigung durch den offensichtlichen Zerfall der Tugenden motiviert war. Dabei handelt es sich gerade mal um das zweite Jahrhundert nach der Hiǧra.

Dieses Phänomen erscheint zyklisch und immer wieder sticht hervor, dass es Zeiten der Motivation und Hingabe gab und Zeiten, in denen die Respektlosen zum Vorschein traten und sich mit geringem Wissen als Wissende behauptet haben.
Auch heute finden wir uns in solch einer Zeit, in denen dieses Phänomen beobachtet werden kann. Es treten Gruppierungen und Personen auf, die jung an Jahren, naiv im Denken, schwach im Wissen und scharf im Sprechen sind und große Töne von sich geben, was die islamischen Wissenschaften angeht. 
Die Messlatte, ab denen eine Person die Verantwortung empfindet, ein Wissensträger zu sein, ist in den Köpfen dieser Personen so gering angelegt, dass sie in diesen Trug fallen und Unheil und Unruhe zu stiften bereit sind. 

Diese Krankheit kann auf zwei grundlegende Ursachen zurückgeführt werden:

1. Unkenntnis über den Umfang des Wissens: 

Damit ein einfach gestrickter und unwissender Mensch von sich das Gegenteil behaupten kann, muss seine Kenntnis über das Wissen sehr gering sein. In seinen Augen scheint das Wissen leicht und überschaubar zu sein, so dass nach einigen gelesenen Aussagen und Texten ein Gefühl in ihm entsteht, dass er das Recht haben würde, kund zu tun, was er erfahren hat und damit in Frage zu stellen und zu kritisieren, was andere tun.

In Deutschland kann dieser Umstand damit erklärt werden, dass der einfache Muslim hier oft nur Inhalte finden kann, die entweder ganz unwissenschaftlich und simpel aufgebaut sind oder u. a. doch wissenschaftlich, evtl. sogar auf große Gelehrte zurückführend aber jedoch nur teilweise zur Verfügung gestellt werden. Des Weiteren kann man manchmal auch vollständige Werke sehen, die aber bei der Frage der Sprache und Verfügbarkeit manchmal hohe akademische Kenntnisse voraussetzen. 

Die einfachen jugendlichen Muslime, teilweise mit hohem, teilweise mit normalem und teilweise mit schlechtem Bildungserfolg, die irgendwann ein Interesse an der Religion entwickeln, kommen mit allen möglichen Inhalten in Berührung und da die meisten kein vorheriges Fundament haben, lassen sich alle möglichen ideologischen Denkweisen in ihre Köpfe einpflanzen. Die erste Ideologie, die einen unerfahrenen Jüngling somit trifft, erobert seinen Verstand und setzt oft ein Siegel darauf, um jeden Zugang für anders ausgerichtete Wissensinhalte zu versperren.

Weil das aus Bruchteilen bestehende Wissen nun im Gegensatz zum vorherigen Zustand als große Errungenschaft erscheint und man das erworbene Wissen nicht mit den vielen Dingen, die man noch nicht weiß, vergleichen kann, ensteht im Geiste solcher Personen das Gefühl, eine große Erkenntnis erlangt zu haben, die vielen seiner muslimischen Geschwister verborgen geblieben zu sein scheint.

Diese groß erscheinenden Erkenntnisse gepaart mit der Unkenntnis über das Wissen an sich und über die Methoden und Umstände von Meinungsvielfalt, führen letztendlich zu einer Härte gegenüber allen Aussagen und Meinungen, die sich mit dieser Erkenntnis widersprechen. Weil der Mensch es hasst, unrecht zu haben, kommen die meisten gar nicht auf die Idee, versöhnende Ansätze anzuwenden, denn zwei augenscheinlich widersprüchliche Aussagen anzunehmen würde heißen, dass man keine absolute und einfache Wahrheit mehr hat, sondern zwei Teilwahrheiten, die aber keineswegs einfach und befriedigend erscheinen, wie eine konkrete einzige Wahrheit, auf der man sich ausruhen kann. 

Aus all diesen Umständen resultiert dann letztendlich dieser kämpferische Wille, alles andere und fremde und widersprüchlich erscheinende abzustreiten und die Vertreter dieser Aussagen, seien es Gelehrte oder nicht, zu verhöhnen und abzulehnen.

2. Fehlender Anstand vor dem Wissen:

In Anbetracht der Tatsache, dass der Umfang des Wissens für diese Personen unbekannt ist, ist ihnen auch unbekannt, welche Mühen die früheren Gelehrten auf sich nehmen mussten, um überhaupt eine Stellung im Wissen zu haben. Sogar die Gelehrten, von denen sie gelesen haben und deren Meinung sie nun als die einzige Wahrheit vertreten möchten, sind diese anstrengenden Wege des Lernens durchwandert. 

Doch sie haben keine Kenntnis über die Biografien und sie haben keine Kenntnis über den Respekt gegenüber den Gelehrten. Sie möchten einfache Lösungen haben und einfache Ergebnisse sehen. Die Eigenschaft, nicht differenzieren zu können und nicht zurückhaltend und respektvoll zu sein, war stets die Eigenschaft der Anhänger der Gelüste und der Neigung. So wie Iblīs einst voreilig geurteilt und seine Stellung überschätzt hat, fallen diese jungen Menschen in ihrer Unwissenheit diesem Spiel des Teufels zum Opfer.

Und dies, so empfinde ich es, lässt sich in heutiger Zeit auf allgemein schlechte Erziehung zurückführen. Denn dieser Respekt vor dem, was es noch zu erkunden gilt, ist ein Zeichen einer guten Erziehung, bei der die Werte der Rücksicht und Vorsicht vermittelt wurden. 

Dies erinnert uns an die Überlieferung von ʿUmar Ibn al-Ḥaṭṭāb, der  Ubayy Ibn Kaʿb fragte, was Taqwā (Gottesfurcht) sei, woraufhin Ubayy antwortete, dass es das Verhalten einer Person ist, der seine Klamotten hochzieht, wenn er durch Dornenbüsche wandert. Also bedachte und vorsichtige Schritte macht. 

Diese Eile und mangelnde Vorsicht ist ein Ausdruck von mangelnder Gottesfurcht. Es ist der Ausdruck eines Symptoms eines kranken Herzens. Ein Hinweis darauf, dass fundamental schon ein Problem vorhanden sein muss. So wehe dem, der in diesem Zustand ist und nicht mit diesem Zustand hadert, bis er begreift, dass er etwas an seiner selbst ändern muss.
Denn wer sich in so einem Zustand nicht belehren lässt, nicht mit sich selbst abrechnet und sein Herz von dieser Krankheit befreit, um dessen Herz wird gefürchtet, denn um sich von der Ermahnung abzuwenden, muss man schon Hochmut in sich tragen, welche zur Versiegelung des Herzens führen kann und somit die grundlegend teuflische Eigenschaft ist, mit der der Teufel jeden neugierigen Anfänger auf dem Wege des Wissens von Anfang an in die Irre führen will.

Der Bezwinger (Al-Qahhār) sagt im Qurʾān:

"Wahrlich diese sind es, die die Eile lieben und den später auf ihnen lastenden Tag vernachlässigen." (Sūrah al-ʾInsān - Vers 27)

"Keineswegs! Ihr aber liebt die Eile und vernachlässigt das Jenseits!" (Sūrah al-Qiyāmah - Verse 20-21)

So soll jeder mit sich selbst abrechnen und seine Stellung kennen. Die Bescheidenheit vor dem Wissen ist ein wichtiger Antrieb, um im Wissen überhaupt voranzukommen. Denn nur derjenige wird weiter nach Wissen streben und seinen Horizont erweitern, der stets bei sich eine Unvollständigkeit sieht und sich stets verbessern möchte. So sage ich, um mit einem Aphorismus (Sinnspruch) zum Ende zu kommen: 

Der beste Schüler ist der ewige Schüler.

Das Problem bei den Meinungsverschiedenheiten im Fiqh

Kamāl ad-Dīn al-Udfuwī¹ (gest. 747 n.H.): „Bei den umstrittenen Rechtsfragen (masāʾil al-ḫilāf), zu denen kein spezifischer und definitiver ...