Sonntag, 17. Juni 2018

Ramaḍān - sollte Augen öffnen

"Der Monat Ramaḍān ist es, in dem der Qurʾān als Rechtleitung für die Menschen herabgesandt worden ist und als Verdeutlichung (des Stellenwertes) der Rechleitung und der Unterscheidung [bzw. differenzierten Wahrnehmung]." (Sūrah al-Baqarah - Vers 185)

Der heilige Monat Ramaḍān ist vorbei. Einen ganzen Monat haben wir mit der Erlaubnis und Unterstützung Allāhs gefastet und versucht, unsere weltlichen Gelüste und Neigungen zu zügeln. Jetzt heißt es sich selbst zur Rechenschaft zu ziehen:

Was hatte ich mir vorgenommen und was davon habe ich erreicht? Warum habe ich mir gedacht, dass ich so viel schaffen würde und was war es, was mich vom Erreichen und Einhalten meiner Pläne abhielt? Habe ich irgendwann nur noch Routine-Abläufe gehabt? War es nur noch ein Routine-Fasten oder Routine-Beten? Welche gottesdienstlichen Taten möchte ich, wenn auch in kompakterer Form, nach diesem Monat als Gewohnheit mitnehmen? Worin möchte ich mich steigern und was möchte ich bis zum nächsten Ramaḍān besser machen?

Das sind alles Fragen, die sich der Muslim stellen muss. Denn einer der wichtigen Funktionen von Ramaḍān ist es, Bewusstsein zu schaffen. Im Ramaḍān erleben wir uns selbst, und zwar in Form unserer Triebe, Wünsche und Gewohnheiten. Wir erleben uns deshalb, weil wir uns nun aktiv stoppen müssen, viele Dinge zu tun. Wir lernen somit die Kontrolle über unseren Antrieb, das aktive Unterbinden und somit eine reflektive Position zu uns selber einzunehmen. Wir gehen aus uns heraus und betrachten uns wie ein Kind, das es zu erziehen gilt. Diese analytische und reflektive Betrachtung soll in uns Bewusstsein erzeugen. 

Wenn wir in diesem Monat aber nur darauf bedacht waren, so und so viele Gebetseinheiten zu beten und so viele Seiten des Qurʾān zu rezitieren, dann werden wir dies womöglich mit Allāhs Huld mehr oder weniger auch geschafft haben. Warum? Weil Quantitäten die teuflischen Energien ins uns und außer uns nicht sonderlich stören. Sie sind eine minimale Aufopferung unserer Gemütlichkeit und Zeit. Es ist keine Frage, dass die Anzahl von Gottesdiensten sicherlich ihren Wert bei unserem Herrn hat. Jedoch sind und waren es noch nie die Quantitäten, die die Welt verändert haben. Es war immer die qualitative Leistung; sei sie auch nur wenig an Anzahl. 

Wenn man die Wertstellung dieses heiligen Monats bei den Gefährten und früheren Gelehrten nachliest und untersucht, erkennt man leicht, dass sie diesen Monat als eine Zeit des Wandels und Aufstiegs verstanden haben. Es war ein Sprungbrett zu einem höheren und bewussteren Ich. Eine Schule für den Geist.
So freuten sie sich Monate zuvor auf diesen Monat und bereiteten sich vor. Wenn der Monat vorbei war, reflektierten sie und zogen Lehren für die Monate danach. Denn sie verstanden einen wesentlichen Aspekt des Glaubens:

Das Streben nach der Zufriedenheit Allāhs ist ein endloser Aufstieg.

Die Unendlichkeit spielt eine wichtige Rolle. Denn was viele außer Acht lassen, ist die Tatsache, dass Allāh der Erhabene ist. Erhabenheit in allem. Er überragt und transzendiert alles. Deswegen erinnern wir uns daran, indem wir jeden Tag im Gebet "Allāhu ʾakbar" sagen. Dies ist eine relative Formulierung, denn man sagt "Allāh ist größer." Größer, weil es keinen festgelegten/fassbaren Maß hat. Allāhs Erhabenheit erstreckt sich in die Unendlichkeit. Das Streben nach Allāh und nach Seiner Zufriedenheit ist somit unermesslich und hat immer Luft nach oben. Das klingt von der Formulierung her vielleicht etwas abschreckend, weil man sich denkt, dass es wie ein unerreichbares Ziel klingt. Aber so ist es nicht. Denn jede Nähe und jeder Schritt zu Seiner Näher ist ein Geschmack und ein Erfolg für sich. Aus diesem Grund hört der Muslim auch nicht auf zu streben, weil er weiß, wie der Aufstieg zu Allāh schmeckt. Der Muslim stagniert nicht, weil er den Geschmack des Aufstiegst vermisst.

Im Paradies wird der Aufstieg zu Allāh nicht aufhören. Jeden Tag werden die Bewohner der Glückseligkeit aufsteigen und jeden Tag den Geschmack der höheren Nähe schmecken. Dies macht das Paradies umso attraktiver, weil es einen unendlichen Aufstieg geben wird. Wenn man nämlich nüchtern und ganz menschlich denkt, könnte man ja denken, dass das Paradies irgendwann langweilig werden könnte mit all seinen Bächen und Früchten. Der fleißige Muslim war es im Leben ja schließlich gewohnt, Genuss als Abwechslung zu nutzen. Wo bleibt da der Reiz nach tausenden von Jahren, wenn alles immer gleich bleibt und man den ganzen Tag nur rumhängt? 
Und genau hier beantwortet das oben Erwähnte diese Frage. Die Unendlichkeit ermöglicht, dass alles jeden Tag schöner wird und das Gestrige in den Schatten gestellt wird. Der "Konsum" im Paradies wird somit jeden Tag übertrumpft. Aber das sollte den Kenner der göttlichen Nähe nicht großartig reizen. Was ihn nämlich reizt ist die Freude und Aufregung, die der darin empfindet, dass er weiß, dass im Paradies die Nähe zu Allāh jeden Tag zunehmen wird.

Hierin liegt die Botschaft von Ramaḍān. Habe ich heilsam gewirkt für mich und meine Umgebung, so dass ich Allāhs Gnade empfinden konnte? Habe ich mich selbst überwunden und üble Eigenschaften zu Tugenden umgewandelt, so dass ich einige Schleier beseitigen konnte, die mein Nafs zwischen mir und Allāh gebildet hat? Habe ich etwas zur Verbesserung der Menschheit beigetragen, so dass Ordnung durch mich entstand? 

Denn die Ordnung ist göttlicher Wille. Chaos und Spaltung ist des Teufels Werk.

Ordnet man, vereint man, hebt man Barrieren und Hindernisse auf, so dass Frieden und Einklang einkehren können, dann hat man den Tawḥīd auf menschlicher Ebene verwirklicht. Denn Tawḥīd bedeutet nicht nur, dass wir Allāh als einzig anbetungswürdigen Herrn ansehen und Ihm demgemäß dienen, sondern es bedeutet auch, dass wir die Gläubigen vereinen uns nicht spalten.

Stellt man somit Ordnung in der Gesellschaft, in der Familie und auch in unserem Inneren her, kommt man der göttlichen Einheit näher und erlebt die Gnade und Nähe Allāhs.
Das sollte der Ramaḍān uns lehren; und darüber sollten wir nun nachdenken, auf dass der Segen dieses Monats nachträglich auf uns wirkt und uns hilft, Ordnung, Besserung und Aufstiege in unserem Leben zu ermöglichen.

Denn Gottesdienste sind lediglich Formen und Zahlen, wenn sie nicht mit einem Bewusstsein einhergehen. Und bei Allāh hat davon alles keinen Stellenwert, wenn man diese nicht mit einem reinen und heilsamen Herz ausführt.

"An dem Tage, da weder Besitz noch Söhne (etwas) nützen, sondern nur der (etwas erreicht), der mit reinem Herzen zu Allāh kommt." (Sūrah aš-Šuʿarāʾ - Verse 88-89)

So lasst uns keine Routine-Roboter sein, die die Gottesdienste lediglich nach der Form ausführen, sondern lasst uns bewusste Diener sein.

"Seid Gotteskenner (Rabbāniyyīn) mit dem, was ihr gelehrt habt und mit dem, was ihr studiert habt." (Sūrah Ālī ʿImrān - Vers 79)

Lasst uns achtsam und anwesend sein vor Allāhs Erhabenheit.

"Hierin liegt wahrlich eine Ermahnung für den, der ein (reines) Herz hat oder genau hinhört während er anwesend/achtsam ist." (Sūrah Qāf - Vers 37)

Und bei Allāh liegt der Erfolg.

Das Problem bei den Meinungsverschiedenheiten im Fiqh

Kamāl ad-Dīn al-Udfuwī¹ (gest. 747 n.H.): „Bei den umstrittenen Rechtsfragen (masāʾil al-ḫilāf), zu denen kein spezifischer und definitiver ...