Mittwoch, 25. Oktober 2017

Emotionale Misshandlung und Abhängigkeit in (muslimischen) Ehen

In den letzten Jahren bin ich immer wieder Fällen von emotionaler Misshandlung in muslimischen Ehen begegnet. In dem folgenden Artikel möchte ich über dieses leider viel zu häufig vorkommende Phänomen reden und erläutern, was emotionale Misshandlung überhaupt ist, wie es zustande kommt und welche signifikanten Probleme es beinhaltet.

Die folgende Untersuchung baut auf eine eigene Statistik auf und bedient sich daher an keiner Studie, sondern beruht auf die Fälle, mit denen ich in der Vergangenheit gearbeitet habe.

Die emotionale Misshandlung in einer Beziehung baut auf der Tatsache auf, dass zwischen zwei Personen eine einseitige intensive emotionale Bindung besteht. Für die Vereinfachung nutze ich die Ehe, jedoch sind davon auch nichteheliche Beziehungen betroffen, insbesondere bei dem Phänomen von Liebesbeziehungen von jungen Muslimen auf sozialen Netzwerken.

Emotionale Misshandlung ist ein Zustand von gestörtem Gleichgewicht in einer Beziehung, bei der ein Partner durch (dauerhafte) emotionale Einwirkung auf den anderen Partner eine Art emotionalen Käfig um seinen Partner aufbaut und ihm unter dem Druck emotionaler Last gefügig macht oder das Selbstbewusstsein oder die Willenskraft des Partners bricht. So wird die objektive Wahrnehmung des emotional misshandelten Partners auf die subjektive Ebene des misshandelnden Partners reduziert.

Die emotionale Misshandlung baut auf gewissen Bindemitteln und Voraussetzungen auf, welche eine Person mit einer anderen Person verbinden. Um welche Bindemittel es sich handelt und wie daraus ein Problem entsteht, soll im folgenden Teil erläutert werden:

• Vertrauen/Schuldzuweisung: In einer Beziehung entsteht ein Vertrauen, bei der man seinem Partner seine Schwächen und empfindlichen Seiten deutlich macht. Dadurch, dass der eine Partner genau weiß, welche Schwächen und empfindliche Seiten der andere Partner hat, kann er, gewollt oder ungewollt, genau diese Schwächen angreifen, wenn es zum Beispiel Streit in der Beziehung gibt. Wenn der angegriffene Partner nicht genau erfassen kann, inwiefern Vorwürfe stimmen oder nicht stimmen, kann es dazu kommen, dass er tatsächlich an die Möglichkeit denkt, dass die Schuld auf seiner Seite läge.
Wenn sich diese Methode bewährt und der misshandelnde Partner sieht, dass er mit dieser Vorgehensweise immer als Gewinner aus einem Streit hervorgeht, kann er daraus ein Gewohnheitsmuster entwickeln und Schuldzuweisungen nutzen, die auf diese Schwächen anspielen, um ein Schuldgefühl beim Partner zu erzeugen, damit dieser sich entschuldigt.

Diese Misshandlung wenden Menschen an, die in ihrem Wesen tendenziell rechthaberisch, streitsüchtig oder einsichtslos sind. Diese Eigenschaften fußen oft auf einem sehr stolzen oder übermütigen Charakter, der ungern Fehler bei sich entdecken möchte oder dazu gar nicht in der Lage ist und eher jede Schuld auf andere verlagert (Selbstwertdienliche Verzerrung) oder nicht ertragen kann, zu verlieren (Versagensangst). 

• Hormonelle/Emotionale Verbundenheit: Wenn ein Partner die Nähe des anderen Partners aufgefasst hat und schlecht davon abkommen kann, Nähe und Zuneigung des anderen zu bekommen, kann die weniger verbundene Person im Falle von emotionaler Entfernung wahrnehmen, wie der Partner bemüht ist, diese Entfernung wieder aufzuheben, um jede Gefahr einer Trennung zu beseitigen (Trennungsangst). Es besteht somit das Verlangen, emotionale Spannungen und Entfernungen mit allen Mitteln zu beseitigen (Harmoniesucht). Wenn der weniger verbundene Partner nun erkennt, dass der andere Partner im Falle drohender Disharmonie immer dazu neigt, sich zu beugen oder den Wünschen des Partners nachzugehen, kann auch hier ein Gewohnheitsmuster entstehen, bei der dieser Drang, emotionales Gleichgewicht mit allen Mitteln wieder herzustellen, ausgenutzt werden kann, um seine eigenen Wünsche durchzusetzen.

Diese Misshandlung begehen Menschen, bei denen eine Mischung von Opportunismus und Gewissenlosigkeit zu finden ist. Sie möchten ihrem Vorteil gemäß leben und sind dazu bereit, andere auch auszunutzen. Sie haben kein schlechtes Gewissen, wenn alles so klappt, wie sie es sich persönlich wünschen würden, auch wenn sie dabei die Verhaltensweisen des Partners missbrauchen. 

• Hoffnung: Hoffnung ist ein Bindemittel, welches immer dann zum Einsatz kommt, wenn eine Beziehung schon stark in die Brüche gegangen ist oder dabei ist, in die Brüche zu gehen. Hierbei merkt ein Partner, dass er bei Problemen oder Unzufriedenheit innerhalb der Ehe dem anderen Partner einige Versprechen machen muss, dass ein Zustand besser wird, um seinen Partner zu beruhigen. Am Anfang sind es oft ernste Versprechen, aber mit der sich zeigenden Wirksamkeit, dass man nur solche Aussichten projizieren muss, um die Erwartungshaltung des Partners zu besänftigen, wird auch hier ein Gewohnheitsmuster entwickelt, bei dem sich ein Partner immer häufiger daran bedient, wenn er merkt, dass der andere Partner mit der Beziehung unzufrieden ist und gewisse Dinge verlangt oder einen Mangel anmerkt. 

Dieses Verhalten zeigt sich bei Menschen, die Dinge krankhaft aufschieben (Prokrastination)  oder an Antriebsstörungen leiden und somit nie oder schwer in die Gänge kommen können.

Das Resultat solcher Misshandlungen ist oft, dass durch zunehmender Häufigkeit ein Kontrollverlust über die eigene Person entsteht und man als misshandelte Person irgendwann unter die Kontrolle des Partners fällt. Es ensteht eine Willensschwäche, bei der man bemerkt, dass etwas nicht stimmt aber nichts dagegen unternehmen kann, weil man unter dem Einfluss des Partners schwer zu eigenen Entscheidungen kommen kann. Dies führt zur Abhängigkeit, bei der man eine kognitive Dissonanz erlebt. Das heißt, dass man unterschiedliche widersprüchliche und Gefühle und Spannungen in sich hat; aufgrund der Willensschwäche aber auch nichts dagegen unternehmen kann. Solche Personen sind dann oft unzufrieden, wenn sie mit ihrem Partner zusammen sind und möchten von diesem Zustand freikommen und wenn sie von ihrem Partner entfernt sind, empfinden sie wieder Unzufriedenheit und möchten diesen Zustand beseitigen. Egal was man macht, das Problem ist nicht wirklich zu beseitigen.

Man kann nicht jede Beziehung einfach nach solchen Kriterien bewerten und sagen, dass man emotionaler Misshandlung ausgesetzt ist. Daher gibt es auch keine einheitliche Lösung. Die Fälle müssen individuell untersucht und behandelt werden. 

Denn die bisherige Beschreibung ist eine allgemeine Beschreibung. Für uns Muslime gilt nämlich noch die wichtige Ebene der Belehrung. Denn muslimische Partner müssen jeweils für sich an ihrem Gewissen arbeiten. Denn jeder Muslim sollte sich im Normalfall über seine Beziehung zu seinem Herrn bewusst sein und daher auch ein Pflichtbewusstsein ggü. Seiner Erhabenheit empfinden. Ein pflichtbewusster Muslim mit einem gesunden Gewissen ggü. dem Herrn der Welten begeht solche Misshandlungen nicht. Oft sind solche Misshandlungen daher unterbewusst und die psychischen Probleme sind noch gar nicht als Probleme erfasst worden. Daher bedient man sich bei solchen Problemen an psychologischen Therapien, bei denen kranken Personen ihre Krankheit erst bewusst gemacht werden muss. Denn die Disposition, seinen Partner als religiöser Mensch misshandeln zu können hängt mit vielen Störungen zusammen, die gar nicht als Störungen wahrgenommen werden wollen (Bias blind spot). 

Daher muss man zuerst eine Problemanalyse machen. Es gibt Menschen, die ihre Partner bewusst misshandeln und hierbei liegt die Lösung dann in der aktiven Belehrung und Erziehung/Zurechtweisung dieser Personen. Wenn die misshandelnde Personen starke Tendenzen zur Einsichtslosigkeit und Selbstüberschätzung hat, bedarf es oft psychologischer Betreuung, bei der zur Einsicht begleitet werden muss.

Das Problem ist, dass Muslime diese Form von psychologischer Behandlung oft ablehnen. Entweder aufgrund der Tatsache, dass sie im Vorhinein gar kein zu behandelndes Problem einsehen möchten, aber auch aus anderen Gründen wie falscher Stolz oder Ablehnung nichtmuslimischer Problembehandlungen. Dann hört man solche realitätsfernen Aussagen wie "Ein Nichtmuslim kann einem Muslim, der an Allāh und den Jüngsten Tag glaubt, nicht psychologisch behandeln. Ich habe meinen Glauben." oder anderen Unsinn wie "Ich lese einfach den Qurʾān und mache Ruqyā, um mich zu behandeln." Nicht dass ich Ruqyā als Methode anzweifeln würde. Aber ein pflichtbewusster Muslim, der seine Religion wirklich mit Gewissheit und Gradlinigkeit praktiziert, würde gar nicht an erster Stelle in das Bild einer Person fallen, die psychologische Behandlungen benötigen würde und müsste somit auch gar kein Problem mit Ruqyā behandeln.

Oft werden auch falsche Problemanalysen getätigt, indem man sich falschen Vorstellungen unterwirft, die hier und dort unter Muslimen die Runde machen, wie die Tatsache, dass man verzaubert wäre oder jemand ein böses Auge gemacht hätte. Dies passt nochmal in das Bild der selbstwertdienlichen Verzerrung, bei dem man ein Problem tendenziell nach außen verlagert, statt sich selbst unter die Lupe zu nehmen.

Was diejenigen angeht, die misshandelt werden, ist immer dringend zu raten, die kognitive Dissonanz zu erkennen und Problemlösungen anzustreben. Wenn man dies über sich einfach ergehen lässt, wird es im Laufe der Zeit immer schlimmer, bis man irgendwann so handlungsunfähig wird, dass man gar nicht mehr aus dieser Zwickmühle herauskommen kann.

Ich bitte Allāh darum, dass er die Menschen zur Einsicht begleitet und jedem dabei hilft, jeden Tag an seiner Persönlichkeit etwas zu verbessern. Āmīn.

Das Problem bei den Meinungsverschiedenheiten im Fiqh

Kamāl ad-Dīn al-Udfuwī¹ (gest. 747 n.H.): „Bei den umstrittenen Rechtsfragen (masāʾil al-ḫilāf), zu denen kein spezifischer und definitiver ...