Freitag, 17. März 2017

Weißt du eigentlich, wer du bist?

Wenn es um die Identität geht, wissen viele immer schnell einiges über sich zu berichten. Doch das Problem hierbei ist, dass viele bei ihrer Identität nur die Was-Frage beantworten können, aber nicht die Wer-Frage.

Was bin ich? Ich bin Muslim. Ich bin Anhänger dieser Gruppe. Ich bin Schüler dieses Gelehrten. Ich bin der Freund/die Freundin von Soundso. Ich bin der Mitarbeiter bei Firma X. Ich bin der Sohn, die Tochter usw.

Jeder definiert sich durch die Beziehungen die er hat. Dadurch, dass wir bewusste Diener Allāhs sind, sagen wir, dass wir Muslime sind. Doch für viele Menschen ist dieses Was, wenn es um ihren Islam geht sehr leer, wären da nicht die Grenzen.
Heutzutage definieren sich viele aktive und junge Muslime nicht durch Inhalte, sondern durch Grenzen. Das heißt, dass man sich abgrenzt und sagt, was man nicht ist, statt zu sagen, was man ist. Es bilden sich viele Gruppierungen, die ein revolutionäres Verständnis der Lossagung (Al-Barāʾ) entwickeln und sich von allem lossagen, bis sie einen Rahmen finden, wo sie am Ende sagen können: "Ich und meinesgleichen ist mit mir in diesem Rahmen und alle, die nicht so sind wie ich, habe ich von mir getrennt, indem ich mich von ihnen losgesagt habe."

Doch hier ensteht ein Problem. Dieses Konstrukt ist meistens nichts anderes als ein inhaltsloses Gehäuse. Man hat zwar schön alle Grenzen nach außen definiert, kann sich aber selbst nicht definieren. Man hat sich einer Gruppierung oder Ideologie angeschlossen, damit man seine Identität etwas konkretisieren kann, aber leider hat man daneben geschossen, indem man nichts zu der eigenen Identität hinzugewonnen hat. Man hat bloß festgestellt, mit wem man nicht mehr sympathisieren möchte.

Diese Trug-Identitäten verbreiten sich sehr schnell und insbesondere unter Jugendlichen. Man sieht Prediger in verschiedenen muslimischen und nichtmuslimischen Ländern, die dadurch bekannt werden, dass sie an jedem anderen Prediger oder Gelehrten etwas auszusetzen haben. "Der Prediger Soundso hat sich positiv gegenüber der Demokratie geäußert. Er ist fürwahr ein Irregegangener." oder spektakuläre Überschriften wie "Eine perfekte Antwort auf den Imam Soundso"

Diese Einstellung ensteht durch das Problem, das schon im letzten Artikel besprochen wurde. Es geht darum, dass man eine einfache Lösung möchte. Die Jugendlichen, die in einer Umgebung groß werden, in denen Religion mit Kultur und allen möglichen Dingen gemischt wird, möchten eine klare Wahrheit. Deswegen neigen sie zu diesen Predigern, die sich damit beschäftigen einen exklusiven Islam für sie herauszuarbeiten. Einen Tawḥīd 2.0 wenn man will. Genauso ergeht es den noch extremer orientierten Geschwistern, die sich lieber mit dem Titel Muwaḥḥid anstelle von Muslim betiteln, weil Muslim zu sein viel zu einfach ist und sie daher ein exklusives Label benötigen.

Man kann nur traurig werden, wenn man diesen Zustand der Jugendlichen sieht. Der Islam, der als einer der grundlegenden Prinzipien die Brüderlichkeit und die Einigung vorschreibt, wird mit den Füßen getreten, indem man sich durch Absonderung und Lossagung als eine Elite verstehen will.

Allāh, der Bewahrer (Al-Wakīl) sagt im Qurʾān:

"Die Gläubigen sind ja Brüder. So stiftet Frieden zwischen euren Brüdern und fürchtet Allah, auf dass euch Barmherzigkeit erwiesen werde." (Sūrah al-Ḥuǧurāt - Vers 10)

Unser Antrieb muss die Versöhnung sein und nicht die Lossagung. Es ist klar, dass die Lossagung vom Unglauben (Kufr) und von der Beigesellung (Širk) eine Grundlage unseres Glaubens ist. Doch heißt das nicht, dass wir in komplizierten Fragestellungen, wie Politik, Gesellschaft, Aqīda usw. einfache Urteile erzeugen, durch die wir unsere Brüderlichkeit aufgeben.

Diejenigen, die sich hierin deutlich irren und von denen ich vorher sprach, also diese postmoderne Erscheinung von Lossage-Predigern mit besonderem Tawḥīd-Verständnis, denken, dass sie edel und gesegnet sind wie Ibrāhīm ʿalayhi s-Salām, so dass sie sich erlauben, die modernen Götzen zu definieren, um sie dann mit harten Widerlegungen zu zerhauen. Sie beantworten komplizierte Fragen so simpel, als ob sie gerade danach befragt wurden, wie viel Gebetseinheiten das Maġrib-Gebet hat.
Sie nehmen sich Geschichten aus der Zeit des Propheten und nutzen diese, um ihre harte Einstellung zu rechtfertigen. Sie lassen einen Teil der Sunnah und nehmen den anderen Teil. Sie verdecken den einen Teil der Wahrheit und zeigen die andere Hälfte.

"Diejenigen, die das verbergen, was Wir von den klaren Beweisen und der Rechtleitung herabgesandt haben, nachdem Wir es den Menschen im Buch erklärt hatten, diese verflucht Allāh, und diese verfluchen auch die Fluchenden." (Sūrah al-Baqara - Vers 159)

Ein gefährliches Spiel spielen diese Prediger, deren Halbwissen groß und deren Zungen lang sind. Wenn sie aufgrund ihrer Härte dann von der Regierung beobachtet oder ins Gefängnis gebracht werden, sieht man ihre Anhänger enttäuscht aber gleichzeitig ermutigt. Denn sie denken, dass einzig die Wahrheit bekämpft wird und sie sehen ihre Falschheit dadurch bestätigt, dass ihre Prediger gefangen genommen wurden.

Keine Frage. Es gibt genug Gelehrte und Prediger, die zu Unrecht in Gefangenschaft genommen werden. Dies soll hier keinesfalls relativiert werden. Jedoch sollte man bedenken, wen man in diese Richtung einstuft. Die Gelehrten und Prediger der Mitte, der Weisheit, der Milde, des tiefen Wissens sind diese, die man zu Unrecht ins Gefängnis steckt. Doch diejenigen Prediger, die aufgrund ihrer Härte und aufgrund der Feindschaft, die sie unter den Muslimen stiften, solche Konsequenzen erleben, sollen sich nicht selbst betrügen, indem sie denken, dass dies eine gnadenvolle Prüfung von Allāh sei.

Vielmehr ist dies eine Ermahnung, auf dass sie zurückkehren:
"Unheil ist auf dem Festland und auf dem Meer sichtbar geworden aufgrunddessen, was die Hände der Menschen erworben haben, auf dass Er (Allāh) sie die (Früchte) so mancher ihrer Handlungen kosten lasse, damit sie (zur Wahrheit) zurückkehren." (Sūrah ar-Rūm - Vers 41)

Kommen wir nun zurück zu der Frage nach der Identität. Die Frage nach dem Was ist also dadurch zu klären, indem wir unsere Rollen bestimmen. Wie ist nun die Frage nach dem Wer zu beantworten?

Dies ist etwas komplizierter. Denn sich selbst zu begreifen, also zu reflektieren, reicht aus, um sich z. B. als Muslim oder als Teilnehmer an der Gesellschaft oder wie auch immer, zu begreifen. Es reicht aus, um zu verstehen, was man ist und in welchem Rahmen man es ist.

Bei der Reflektion geht man aus sich raus und beurteilt sich selbst von außen. Die Rolle, die wir dabei erfüllen erkennen wir einzig durch die Reflektion. Doch es kann noch weiter gehen. Wir können die Reflektion nochmal reflektieren. Das heißt, wir betrachten uns nicht mehr in unseren Rollen und in einem bestimmten Rahmen, sondern verlassen diesen Rahmen. Wenn man das erfolgreich gemacht hat, wird man begreifen, dass einzig und allein die wahre Identität dadurch mit Inhalt gefüllt wird, indem wir unsere Beziehung zu Allāh mit Inhalt füllen.

Lasst mich das etwas einfacher ausdrücken:

Wenn man gestorben ist und das Weltliche als auch die anderen Geschöpfe keine Bedeutung mehr haben und man am Jüngsten Tag einzig und allein vor Allāh steht, dann zählt nur noch das, was man dort vorweisen kann. Wenn wir in der Welt versuchen, diese Einstellung zu erreichen, dass wir einzig und allein nur mit Allāh eine richtige Beziehung führen und alles andere nur funktional für die weltlichen Umstände von Bedeutung ist, dann haben wir die zweifache Reflektion erlebt und sind nun in der Lage zu sagen, Wer wir sind. Unsere Beziehung zu Allāh definiert unser eigenes selbst. Wenn wir diese individuelle Beziehung begreifen, können wir ein wahres Selbstwertgefühl entwickeln. Wenn wir dies nie machen, wird unsere Identität nur von den Rahmen und Beziehungen abhängig sein, in denen wir uns befinden.

Deswegen ist es ein Ausdruck wahrer Gottesfurcht und Gottesliebe, wie die Gelehrten sagen, wenn wir in der stillen Einsamkeit unser Verhältnis zu Allāh begreifen und pflegen. Wer in der stillen Einsamkeit versteht, wer er ist und wie seine Beziehung zu Allāh ist, der hat eine wahre Identität, mit der er die wahre Gottesnähe erreichen kann.

Das Problem bei den Meinungsverschiedenheiten im Fiqh

Kamāl ad-Dīn al-Udfuwī¹ (gest. 747 n.H.): „Bei den umstrittenen Rechtsfragen (masāʾil al-ḫilāf), zu denen kein spezifischer und definitiver ...