Montag, 9. November 2020

Das Problem bei den Meinungsverschiedenheiten im Fiqh

Kamāl ad-Dīn al-Udfuwī¹ (gest. 747 n.H.):

„Bei den umstrittenen Rechtsfragen (masāʾil al-ḫilāf), zu denen kein spezifischer und definitiver Text (naṣṣ ḫāṣṣ) vorliegt, der eine von beiden (dazu bestehenden) Rechtsauffassungen begünstigt, ist es angebracht, dass sich für die Erlaubnis (ǧawāz) entschieden wird.“

Aus: Al-Imtāʿ bi-aḥkām as-samāʿ, S. 417 f.

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¹ Al-Udfuwī war ein šāfiʿitischer Jurist aus Ägypten. Sein Lehrer, Abū Ḥayyān Aṯīr ad-Dīn al-Andalusī nannte ihn „das Aushängeschild der Šāfiʿiten“


Das Thema der Meinungsverschiedenheiten muss folgendermaßen beleuchtet werden:


Bei den Themen, bei denen es im Fiqh verschiedene Meinungen gibt, die sich zwischen erlaubt und verboten drehen, gab es unter den Gelehrten der Rechtsmethode (Uṣūl al-Fiqh) und der Rechtslehre (al-Fiqh) schon immer verschiedene Ansätze. Jeder argumentierte mit verschiedenen Beweisen, warum es besser ist, sich nach dem einen oder anderen auszurichten.

Manche Gelehrte legen viel Wert auf den exakten Wortlaut der vorhandenen nicht-eindeutigen Beweise (naṣṣ ẓannī) und es entsteht oft das Missverständnis, dass aus dieser Perspektive betrachtet keine Meinungsverschiedenheit vorhanden wäre und es kommt zu Härte und Ablehnung seitens derjenigen, die diese Ansicht vertreten, gegenüber denjenigen, die einer anderen Meinung folgen oder eine Meinungsverschiedenheit annehmen.

Fakt ist, dass in allen Themen, die nicht EXPLIZIT (qaṭʿī) im Qurʾān oder in der Sunnah geregelt wurden, von damals bis heute zwangsweise eine Meinungsverschiedenheit zu finden sein wird. Und oft ist es so, dass das, was die Laien als explizit verstehen, unter den Gelehrten, aufgrund der feinen Kenntnis über die Sprache und Quellen, nicht als explizit gilt. Die Feinheiten der Rechtssprache und der Rechtsmethodologie müssen daher genau gekannt und beherrscht werden, um adäquate Aussagen treffen zu können.

Deswegen sagte Imām aš-Šāfiʿī in seinem Werk Al-Umm, dass in seiner Zeit eine Reihe von Meinungen vorhanden waren - über die ein Laie heute denken könnte, dass es unmöglich unterschiedliche Meinungen dazu geben kann und diese Dinge klar verboten sein müssten - , dass auch wenn diese Meinungen nach der Ansicht seiner Schule klar abzulehnen sind, die rechtliche Gültigkeit dieser Meinungen nicht angefochten werden kann, da es im Lichte der Meinungsfindung (Iǧtihād) möglich war, diese Sache als nicht-eindeutig zu identifizieren.

Daher ist es nicht unsere Aufgabe, uns gegenseitig aufgrund von verschiedenen Meinungen im Fiqh aufzufressen. Diese Streitereien sind Versuche des Teufels, die Aufmerksamkeit auf sekundäre Dinge zu lenken und primäre Angelegenheiten zu verdrängen. Deswegen möchte ich die Aussage von Šāh Waliyyullāh ad-Dahlawī nochmal erwähnen, der sagte:

"Die Wahrheit ist, dass die Herabsendung des Edlen Qurʾāns (einzig) darauf zielte, die Menschenseelen zu erziehen, die falschen Überzeugungen zu korrigieren und die verwerflichen Handlungen zu beseitigen." [Al-Fawz al-Kabīr fī Uṣūl at-Tafsīr]

In diesem Werk verdeutlicht er auch, dass die Offenbarungsanlässe (asbāb an-nuzūl) des Qurʾāns nicht wirklich in äußeren Ereignissen liegen, sondern die äußeren Ereignisse das Resultat von den Zuständen und Überzeugungen der Herzen sind und diese es am Ende sind, weswegen ein Vers herabgesandt wurde. Wenn Allāh in der Sūrah al-Muǧādila den Anlass nimmt, dass ein Mann sich von seiner Frau mit dem Rückenschwur (Ẓihār) scheidet, dann ist das Szenario der Offenbarung diese falsche Form der Scheidung, aber der wahre Grund ist, dass in den Herzen der Menschen anscheinend noch eine falsche Überzeugung / ein falscher Brauch aus der vorislamischen Zeit vorhanden war, der beseitigt werden musste.

Daher geht es auf der primären Ebene immer darum, dass die Menschen erzogen werden und sich ihre Herzen auf Allāh richten. Wenn dies erreicht wird, dann kommt es nicht mehr auf juristische Spielereien an, sondern auf die Wichtigkeit der Prinzipien und des wahren Ziels, also die Zufriedenheit Allāhs und Seine Nähe.

Das Problem bei den Meinungsverschiedenheiten im Fiqh

Kamāl ad-Dīn al-Udfuwī¹ (gest. 747 n.H.): „Bei den umstrittenen Rechtsfragen (masāʾil al-ḫilāf), zu denen kein spezifischer und definitiver ...