Freitag, 27. Januar 2017

Bescheidenheit und Respekt vor dem Wissen

Wenn wir die unterschiedlichen Zeiten und Generationen der islamischen Geschichte betrachten, können wir erkennen, dass zu jeder Zeit gewisse Probleme vorhanden waren. Dazu gehören Streitigkeiten unter den Gelehrten und aber auch das häufige Auftreten von Besserwissern und streitsüchtigen Parteien, die nicht zu der Ebene der Gelehrten zählten.
Natürlich erreichten uns viele fruchtbare Taten und Werke jeder Generation und überdauerten diese Probleme, was darauf hindeutet, dass die Hingabe zur Religion dauerhaft vorhanden war und sich neben allen niedrigen Konflikten und Streitigkeiten dennoch durchsetzen konnte.

Während die Streitigkeiten unter den Gelehrten teils unangenehme Züge haben konnten, fanden die meisten dennoch in einem guten Rahmen statt, in denen die Gelehrten ihre Positionen untereinander kritisierten, ohne sich zu schmähen oder sogar wenn es zu einer tieferen Kritik kam, die Brüderlichkeit nicht vergaßen, so wie der Šāfiitische Gelehrte ʿAbū Nuʿaym al-ʾIṣfahānī in seinem Werk Ḥilyat al-ʾAwliyāʾ die Lage der Gelehrten beschreibt.

Interessant wird aber der zweite Aspekt, den ich am Anfang erwähnt habe und zwar das Auftreten von Besserwissern, die keine Gelehrten waren und sich dennoch so aufdringlich ausdrückten, als ob sie diese Stellung besäßen. Dies kommentieren einige Gelehrten in Verbindung mit der Erscheinung schlechter Verhaltenszüge oder dem Verlust der Priorität auf gute Verhaltenszüge. 

Wir erfahren von diesem Zerfall der Tugenden aus allen Generationen und sogar von den Zeiten der früheren großen Gelehrten. So sagt der große Zāhid (Asket) Abū ʿAbdullāh al-Muḥāsibi, der in der Zeit vom Imām Aḥmad Ibn Ḥanbal gelebt und gemeinsam mit ihm gegen die Muʿtazila vorangegangen ist, dass seine asketische Neigung durch den offensichtlichen Zerfall der Tugenden motiviert war. Dabei handelt es sich gerade mal um das zweite Jahrhundert nach der Hiǧra.

Dieses Phänomen erscheint zyklisch und immer wieder sticht hervor, dass es Zeiten der Motivation und Hingabe gab und Zeiten, in denen die Respektlosen zum Vorschein traten und sich mit geringem Wissen als Wissende behauptet haben.
Auch heute finden wir uns in solch einer Zeit, in denen dieses Phänomen beobachtet werden kann. Es treten Gruppierungen und Personen auf, die jung an Jahren, naiv im Denken, schwach im Wissen und scharf im Sprechen sind und große Töne von sich geben, was die islamischen Wissenschaften angeht. 
Die Messlatte, ab denen eine Person die Verantwortung empfindet, ein Wissensträger zu sein, ist in den Köpfen dieser Personen so gering angelegt, dass sie in diesen Trug fallen und Unheil und Unruhe zu stiften bereit sind. 

Diese Krankheit kann auf zwei grundlegende Ursachen zurückgeführt werden:

1. Unkenntnis über den Umfang des Wissens: 

Damit ein einfach gestrickter und unwissender Mensch von sich das Gegenteil behaupten kann, muss seine Kenntnis über das Wissen sehr gering sein. In seinen Augen scheint das Wissen leicht und überschaubar zu sein, so dass nach einigen gelesenen Aussagen und Texten ein Gefühl in ihm entsteht, dass er das Recht haben würde, kund zu tun, was er erfahren hat und damit in Frage zu stellen und zu kritisieren, was andere tun.

In Deutschland kann dieser Umstand damit erklärt werden, dass der einfache Muslim hier oft nur Inhalte finden kann, die entweder ganz unwissenschaftlich und simpel aufgebaut sind oder u. a. doch wissenschaftlich, evtl. sogar auf große Gelehrte zurückführend aber jedoch nur teilweise zur Verfügung gestellt werden. Des Weiteren kann man manchmal auch vollständige Werke sehen, die aber bei der Frage der Sprache und Verfügbarkeit manchmal hohe akademische Kenntnisse voraussetzen. 

Die einfachen jugendlichen Muslime, teilweise mit hohem, teilweise mit normalem und teilweise mit schlechtem Bildungserfolg, die irgendwann ein Interesse an der Religion entwickeln, kommen mit allen möglichen Inhalten in Berührung und da die meisten kein vorheriges Fundament haben, lassen sich alle möglichen ideologischen Denkweisen in ihre Köpfe einpflanzen. Die erste Ideologie, die einen unerfahrenen Jüngling somit trifft, erobert seinen Verstand und setzt oft ein Siegel darauf, um jeden Zugang für anders ausgerichtete Wissensinhalte zu versperren.

Weil das aus Bruchteilen bestehende Wissen nun im Gegensatz zum vorherigen Zustand als große Errungenschaft erscheint und man das erworbene Wissen nicht mit den vielen Dingen, die man noch nicht weiß, vergleichen kann, ensteht im Geiste solcher Personen das Gefühl, eine große Erkenntnis erlangt zu haben, die vielen seiner muslimischen Geschwister verborgen geblieben zu sein scheint.

Diese groß erscheinenden Erkenntnisse gepaart mit der Unkenntnis über das Wissen an sich und über die Methoden und Umstände von Meinungsvielfalt, führen letztendlich zu einer Härte gegenüber allen Aussagen und Meinungen, die sich mit dieser Erkenntnis widersprechen. Weil der Mensch es hasst, unrecht zu haben, kommen die meisten gar nicht auf die Idee, versöhnende Ansätze anzuwenden, denn zwei augenscheinlich widersprüchliche Aussagen anzunehmen würde heißen, dass man keine absolute und einfache Wahrheit mehr hat, sondern zwei Teilwahrheiten, die aber keineswegs einfach und befriedigend erscheinen, wie eine konkrete einzige Wahrheit, auf der man sich ausruhen kann. 

Aus all diesen Umständen resultiert dann letztendlich dieser kämpferische Wille, alles andere und fremde und widersprüchlich erscheinende abzustreiten und die Vertreter dieser Aussagen, seien es Gelehrte oder nicht, zu verhöhnen und abzulehnen.

2. Fehlender Anstand vor dem Wissen:

In Anbetracht der Tatsache, dass der Umfang des Wissens für diese Personen unbekannt ist, ist ihnen auch unbekannt, welche Mühen die früheren Gelehrten auf sich nehmen mussten, um überhaupt eine Stellung im Wissen zu haben. Sogar die Gelehrten, von denen sie gelesen haben und deren Meinung sie nun als die einzige Wahrheit vertreten möchten, sind diese anstrengenden Wege des Lernens durchwandert. 

Doch sie haben keine Kenntnis über die Biografien und sie haben keine Kenntnis über den Respekt gegenüber den Gelehrten. Sie möchten einfache Lösungen haben und einfache Ergebnisse sehen. Die Eigenschaft, nicht differenzieren zu können und nicht zurückhaltend und respektvoll zu sein, war stets die Eigenschaft der Anhänger der Gelüste und der Neigung. So wie Iblīs einst voreilig geurteilt und seine Stellung überschätzt hat, fallen diese jungen Menschen in ihrer Unwissenheit diesem Spiel des Teufels zum Opfer.

Und dies, so empfinde ich es, lässt sich in heutiger Zeit auf allgemein schlechte Erziehung zurückführen. Denn dieser Respekt vor dem, was es noch zu erkunden gilt, ist ein Zeichen einer guten Erziehung, bei der die Werte der Rücksicht und Vorsicht vermittelt wurden. 

Dies erinnert uns an die Überlieferung von ʿUmar Ibn al-Ḥaṭṭāb, der  Ubayy Ibn Kaʿb fragte, was Taqwā (Gottesfurcht) sei, woraufhin Ubayy antwortete, dass es das Verhalten einer Person ist, der seine Klamotten hochzieht, wenn er durch Dornenbüsche wandert. Also bedachte und vorsichtige Schritte macht. 

Diese Eile und mangelnde Vorsicht ist ein Ausdruck von mangelnder Gottesfurcht. Es ist der Ausdruck eines Symptoms eines kranken Herzens. Ein Hinweis darauf, dass fundamental schon ein Problem vorhanden sein muss. So wehe dem, der in diesem Zustand ist und nicht mit diesem Zustand hadert, bis er begreift, dass er etwas an seiner selbst ändern muss.
Denn wer sich in so einem Zustand nicht belehren lässt, nicht mit sich selbst abrechnet und sein Herz von dieser Krankheit befreit, um dessen Herz wird gefürchtet, denn um sich von der Ermahnung abzuwenden, muss man schon Hochmut in sich tragen, welche zur Versiegelung des Herzens führen kann und somit die grundlegend teuflische Eigenschaft ist, mit der der Teufel jeden neugierigen Anfänger auf dem Wege des Wissens von Anfang an in die Irre führen will.

Der Bezwinger (Al-Qahhār) sagt im Qurʾān:

"Wahrlich diese sind es, die die Eile lieben und den später auf ihnen lastenden Tag vernachlässigen." (Sūrah al-ʾInsān - Vers 27)

"Keineswegs! Ihr aber liebt die Eile und vernachlässigt das Jenseits!" (Sūrah al-Qiyāmah - Verse 20-21)

So soll jeder mit sich selbst abrechnen und seine Stellung kennen. Die Bescheidenheit vor dem Wissen ist ein wichtiger Antrieb, um im Wissen überhaupt voranzukommen. Denn nur derjenige wird weiter nach Wissen streben und seinen Horizont erweitern, der stets bei sich eine Unvollständigkeit sieht und sich stets verbessern möchte. So sage ich, um mit einem Aphorismus (Sinnspruch) zum Ende zu kommen: 

Der beste Schüler ist der ewige Schüler.

Das Problem bei den Meinungsverschiedenheiten im Fiqh

Kamāl ad-Dīn al-Udfuwī¹ (gest. 747 n.H.): „Bei den umstrittenen Rechtsfragen (masāʾil al-ḫilāf), zu denen kein spezifischer und definitiver ...