Montag, 22. Oktober 2018

Das Herz (al-Qalb) und die Einflüsterungen

Dies ist eine schriftliche Zusammenfassung eines Vortrags zum Thema Das Herz (al-Qalb)  (Link zum Vortrag: https://youtu.be/kX8MO2i6Sv8 )

Einer der bekannten Überlieferer aus der Zeit der Tābiʾīn, Ḫālid ibn Maʿdān (gest. 103 n.H.) sagte:

“Allāh hat Behälter auf der Erde. Die liebsten Behälter sind die sanftesten und reinsten. Die Behälter Allāhs auf der Erde sind die Herzen der rechtschaffenen Diener.”

Diese Aussage, die in ähnlichen Wortlauten auch als Ḥadīṯ überliefert wurde, spricht über die Behälter Allāhs als ein Gleichnis für die Herzen. Die Herzen werden im Qurʾān als das zentrale Element des Begreifens mehrmals erwähnt.

Allāh sagt: „Hierin liegt wahrlich eine Ermahnung für den, der ein Herz (qalb) hat oder zuhört und bei der Sache ist.“ (Sūrah Qāf - Vers 37)

In diesem Artikel soll erklärt werden, wie das Herz / al-Qalb definiert wurde und welche Bedeutungen es im Leben des Gläubigen haben sollte.

Wir nehmen wieder zuerst die Definition von dem großen Sprachwissenschaftler Ibn Manẓūr (gest. 711 n.H.), dem Verfasser des Lisān al-ʿArab, eines der größten und bedeutsamsten Lexiken der arabischen Sprache. Er sagt, dass al-Qalb in dem Sinne verstanden wird, dass eine Sache umgeändert, umgewälzt oder umgedreht wird. Hierbei wird das einfache Beispiel eines Mannes gegeben, der mit dem Rücken zu einem steht und sich dann umdreht. Al-Qalb ist somit das, was sich dreht bzw. ständig wendet und ändert.
Die zweite sprachliche Definition entnehmen wir von dem hanbalitischen Universalgelehrten Abū al-Faraǧ ibn al-Ǧawzī (gest. 597 n.H.), der in seinem Werk Madāriǧ as-Sālikīn sagte, dass al-Qalb zuerst den physischen Fleischkörper in der Mitte der Brust bezeichnet und auf der tieferen Ebene eine sogenannte Laṭīfa. Die Laṭāʾif (Pl. von Laṭīfā) sind subtile und essentielle Ebenen der Seele. Diese Laṭīfa ist die Instanz, an die die göttliche Ansprache im Qurʾān gerichtet ist und daher auch die, welche am Ende zur Rechenschaft gezogen wird.

Das Herz wird im Qurʾān zahlreich erwähnt. Die folgenden Beispiele sollten einige Eindrücke geben:

"Und wisset, dass Allāh zwischen den Menschen und sein Herz tritt, und dass ihr vor Ihm versammelt werdet." (Sūrah al-Anfāl - Vers 24)

"Und gehorche nicht dem, dessen Herz Wir achtlos für die Erinnerung an Uns machten und der seinen Gelüsten folgt und maßlos ist." (Sūrah al-Kahf - Vers 28)

"Sodann verhärteten sich eure Herzen, so dass sie wie Steine wurden oder noch härter." (Sūrah al-Baqara - Vers 74)

In der Sunnah finden wir sogar einen Hadīṯ, der eine Definition durch den Propheten beinhaltet:

Der Prophet (ṣ) sagte: "Das Herz (al-Qalb) hat seinen Namen aufgrund seiner Wechselhaftigkeit (taqallub). Das Gleichnis des Herzens ist das einer Feder, die an der Wurzel eines Baumes hängt und die der Wind immer wieder herumdreht." (Überliefert bei Aḥmad)

Nun nehmen wir die zwei bisher verwendeten Autoren und schauen ihre Abhandlungen über dieses Thema an.

Abū al-Faraǧ ibn al-Ǧawzī sagt, dass das Herz das Zentrum des Willens und der Entscheidungen ist und alle Gliedmaßen daher den Anordnungen des Herzens folgen. Die Werkzeuge, die dem Herzen unterliegen, bezeichnet er bildlich als zwei Armeen. Die erste Armee ist die sichtbare und besteht aus den inneren und äußeren physischen Teilen des Körpers. Die zweite Armee ist die unsichtbare und besteht aus den Kräften und Trieben im Körper, die aus der natürlichen Anlage heraus dem Körper sagen, was es erlangen soll.

Dabei haben die Armeen drei Funktionen:
1. Irāda (Wille) → Das Gute wollen und das Schlechte verabscheuen
2. Qudra (Fähigkeit) →  Das Gute anstreben und das Schlechte meiden
3. Idrāk (Wahrnehmen) und ʿIlm (Wissen) →  Das Gute und Schlechte erkennen und einschätzen

Insgesamt hat der Körper laut Ibn al-Ǧawzī fünf physische und geistige Sinne:

Fünf physische Sinne: Hören, Sehen, Riechen, Schmecken, Fühlen
Fünf geistige Sinne: Vorstellen (taḥayyul), Merken (taḥaffuẓ), Nachdenken (tafakkur), Erinnern (taḏakkur), Nachempfinden (Ḥiss muštarak)

Aus der gesamten Gliederung geht auch der wesentliche Unterschied zwischen Tier und Mensch hervor. Dieser ist, dass der Mensch Wissen und Willen besitzt und somit die Taten des Menschen nicht nur einfachen Reiz-Reaktions-Mustern folgen, sondern durch die Wahl und Überlegung des Menschen geprägt werden.

Dann erwähnt Ibn al-Ǧawzī das Gleichnis eines Spiegels, um fünf verschiedene Hindernisse zu verdeutlichen, mit denen das Herz davon abgehalten wird, eine richtige Erkenntnis zu erlangen.

Das Herz ist wie ein Spiegel, es nimmt die Dinge symbolisch/formell/abstrakt auf und hält sie fest.
Die fünf Hindernisse, die den Spiegel → das Herz von der Wahrheit abhalten:

1. Unvollständigkeit des Spiegels oder der Oberfläche 
→  Geistige Beschränktheit / Unterentwicklung 
2. Verschmutzung der Oberfläche 
→  Verblendung des Herzens durch Wünsche und Verlangen 
3. Falsche Ausrichtung des Spiegels 
→  Beschäftigung des Herzens mit anderen Dingen 
4. Verschleierung zwischen Spiegel und Objekt 
→  Beschränktheit durch Voreingenommenheit/Fanatismus/Sturheit 
5. Unkenntnis über die Richtung des Objekts 
→  Unfähigkeit, die Wahrheit zu finden durch chaotische und unstrukturierte Vorgehensweisen

Zuletzt erwähnt er eine Reihe von Untugenden, die das Herz schwächen und somit dem Teufel ermöglichen, leichter Eintritt zu finden:

Neid (Ḥasad) – Verlangen (Ḥirṣ) – Wut (Ġaḍab) – Ausstattungszwang (Haus, Möbel, Deko usw.) – Essen bis zur Fülle – Erwartungen (Unterwürfigkeit) – Eile – Liebe zum Vermögen (Verbotene Wege, Geiz, Armutssorgen usw.) – Fanatismus/Parteilichkeit – Das kompliziert Machen der religiösen Angelegenheiten – Das schlechte Denken über seine Geschwister

Dem zweiten Gelehrte Abū Ṭālib al-Makkī (gest. 386 n.H.) entnehmen wir seine Darstellung der Gedanken, die das Herz befallen können. Er sagt, dass es insgesamt sechs Instanzen gibt, von denen ein Einfluss auf die Gedanken des Herzens entstehen können.

1. Die Einflüsterungen des Teufels (-) 
Diese sind immer negativ und sollen den Menschen zu schändlichen Dingen treiben.
2. Die Neigungen des Nafs (-) 
Diese sind die grundlegenden Triebe des Nafs und müssen kontrolliert und gezügelt werden. 
3. Die Gedanken des Verstandes (+/-) 
Diese helfen dabei Wissen/Überlegungen weiterzudenken und zu ordnen.
4. Die Motivation der Engel (+) 
Diese sind immer positiv und sollen den Menschen zu guten Dingen führen.
5. Die Neigungen der Seele (+) 
Diese sind die seelisch veranlagten Wünsche, Allāh zu dienen und Seine Zufriedenheit zu erlangen.
6. Die Einleuchtungen/Erkenntnisse, die von Allāh kommen, entsprechend der Gewissheit (Yaqīn) (++)
Das ist ein Punkt, bei dem sich die Gelehrten uneinig waren und zwar die Art des Einflusses, bei dem Allāh direkt das Herz entsprechend seiner Gewissheit mit Erkenntnissen erleuchtet.

Auch Al-Makkī bedient sich eines Gleichnisses. Er möchte die Gewissheit (al-Yaqīn) durch das Licht eines Feuers beschreiben, welches durch den Schlag auf einen Feuerstein erzeugt wird.

Īmān / Glaube →  Wie ein Feuerstein 
Ilm / Wissen → Wie der Schlag des Feuersteins, um einen Funken zu erzeugen 
Aql / Verstand →  Wie das Feuer, was durch diesen Funken erzeugt wurde 
Die Gewissheit ist wie das Licht, das von diesem Feuer ausgestrahlt wird

Der Glaube ist wie ein Feuerstein. Es hat das Potenzial, Funken zu erzeugen, benötigt jedoch das Wissen, womit man den Glauben reizt und somit den Funken erzeugt, der das Feuer des Verstandes erleuchtet. Dieses Feuer strahlt dann das Licht der Gewissheit aus.

Deswegen erwähnt Allāh auch im folgenden Vers das Wissen zuerst, weil erst mit dem Wissen der Glaube verwirklicht werden kann:

Es ist mit Allāhs Wissen offenbart worden; und es ist kein Gott außer Ihm.“ (Sūrah Hūd - Vers 14)

Dann erwähnt Al-Makkī noch drei Faktoren, die den Einfluss des Nafs stärken und drei Schleier, die die Wahrheit verschleiern:

Drei Faktoren, die den Nafs Stärken:
1. Unwissenheit 
Wenn man kein Wissen über Gut und Schlecht hat, kann man in alle Richtungen geneigt sein.
2. Verlangen/Gier
Wenn man voller Verlangen ist, kann man seine Taten nicht gut durchdenken und macht daher voreilige Schritte.
3. Liebe zur Dunyā
Diese lenkt davon ab, sich auf sein Jenseits zu konzentrieren.

Drei Schleier, die die Wahrheit verschleiern:
1. Die Mittel (Asbāb) →  Die Mittel sind die Instanzen, durch die Allāh die gewünschten Wirkungen und Kausalitäten zustande bringt. Der Schleier entsteht, wenn diese Mittel als die Quelle der Wirkungen angesehen werden, anstatt als Mittel, durch die Allāh die Wirkungen zustande bringt. 
2. Die Gelüste (Šahawāt) →  Die Gelüste machen das Auge blind und lassen den Menschen gänzlich auf die Befriedigungen der Momente konzentriert sein, ohne Konsequenzen und negative Folgen zu berücksichtigen.
3. Die Gewohnheiten (ʿĀdāt) →  Religiöse Rituale werden zu Gewohnheiten, wenn man sie nur noch als Routine ausübt. Sobald etwas zur Routine wird, wird sein essenzieller Daseinszweck verdrängt/vergessen.

Diese ganzen Gliederungen und Punkte haben diese beiden und auch viele weitere Gelehrte in ihren Werken skizziert, um Reize und Ansätze zu schaffen, die den Menschen dabei behilflich sein sollen, das Herz und seine Funktionsweise zu verstehen.

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