Freitag, 8. September 2017

Taqī ad-Dīn ʾAḥmad ibn Taymiyya al-Ḥarrānī

Einer der gewaltigsten Gelehrten, dessen Texte und Aussagen auf vielerlei Art und Weisen missbraucht wurden, ist Taqī ad-Dīn ʾAḥmad ibn Taymiyya al-Ḥarrānī, möge Allāh sich seiner erbarmen. Auf ihn trifft ein Problem, welches vielen Gelehrten widerfahren ist, die sehr viel geschrieben haben. Ibn Taymiyya schrieb nach Aussagen seines Schülers Ibn Qayyim al-Jawziyya 350, und laut seinem anderen Schüler Šams ad-Dīn aḏ-Ḏahabī um die 500 und laut modernen orientalistischen Forschungen um die 750 Werke, von denen viele verloren gegangen sind. Wenn ein Gelehrter viele Werke schreibt, kommen gewisse Probleme zustande: 1. Sie entstehen in verschiedenen Lebensabschnitten. a. Es ist daher nicht immer klar, ob eine Haltung oder eine Meinung durchgehend beibehalten wurde. b. Das Alter bestimmt das Temperament. So sind Formulierungen in der Jugend oft schärfer, während im Alter die Weisheit durch Lebenserfahrung mehr in den Texten vordringt. 2. Es gibt viele Kontexte, in denen etwas gesagt wird. Nicht jede Passage ist somit wortwörtlich extrahierbar. Durch diese Vielheit finden sich daher viele unterschiedliche Rezeptionen (Interpretationen) und jeder, der nach Ibn Taymiyyas Ableben mit seinen Büchern in Kontakt kommt, liest nicht 100% von dem, was er geschrieben hat, zumal vieles gar nicht mehr zugänglich ist. Deswegen macht jeder seinen eigenen Salat aus dem, was er vorfindet. So haben sich sehr viele Bewegungen, Strömungen, Sekten, Ideologien, Schulen uvm. an seinen Werken bedient und eigene Lehre entwickelt, welche durch Ibn Taymiyyas wissenschaftlichem Geist inspiriert wurden. Leider wird jede abgeleitete Idee auf ihn zurückgeführt und so sehen wir in heutiger Zeit, dass ihm alles mögliche vorgeworfen wird. Ich möchte nicht sagen, dass Ibn Taymiyya nur dann zu verstehen ist, wenn man alle seine Werke gelesen hat. Nein; vielmehr ist Ibn Taymiyya ein Mensch, der sehr verständlich schrieb und seine Haltung auch einfach zu begreifen ist. Das Problem ist aber der Bestätigungsfehler, der im früheren Beitrag besprochen wurde. Die Leute entnehmen den Texten Ibn Taymiyyas das, was ihrer bisherigen Grundhaltung dienlich scheint und sie ernähren ihre Neigungen oder Konzepte durch die Aussagen und Argumentationen Ibn Taymiyyas. So wird und wurde Ibn Taymiyya wie eine Spielkarte verwendet gegen jede andere Idee, der man etwas entgegnen will/wollte. Man bedient/e sich an den passenden Stellen und spielt/e Ibn Taymiyya gegen jeden und alles aus, was man persönlich bekämpfen bzw. widerlegen will/wollte. Doch das ist ein ganz klarer Missbrauch. Eine Beleidigung eines solch scharfen Geistes und Wissenschaftlers. Wer Ibn Taymiyya ganz nüchern liest, auf der Suche nach Weisheit und Gradlinigkeit, der wird erkennen, dass Ibn Taymiyya eigentlich nur zwei Dingen widersprochen hat: 1. Glaubensinhalten, die entweder eindeutig oder interpretativ (auf Iǧtihād basierend) falsch sind. 2. Unauthentizität: viele seiner Kritiken richten sich gegen Werke, in denen er die Authentizität der Überlieferungen kritisiert hat, welche in diesen Werken vorkamen. Es ging ihm also nie um Personen oder Gruppen oder dergleichen. Sondern vielmehr ging es ihm darum, das Falsche zu widerlegen, was Personen oder Gruppen gedacht oder geglaubt haben. So finden wir Stellen, an denen er Aussagen von Personen kritisiert, die einer Gruppe angehören und auf der anderen Seite Personen lobt, die ebenfalls dieser Gruppe angehören. Er richtet sich demgemäß gar nicht gegen eine Gruppe, sondern gegen Aussagen und Inhalte. Und das Besondere hierbei ist, dass er beim Lob die ganze Person lobt. Wenn er kritisiert, dann nur die Aussagen und Inhalte, die von einer Person kommen, ohne die Person als Person zu kritisieren. Leider finden wir heute noch viele junge Leute, die Ibn Taymiyya als Spielkarte benutzen. Sie nutzen seine Aussagen, um 1. die Personen oder Gruppen zu schmähen, deren Glaubensinhalte Ibn Taymiyya eigentlich nur kritisiert hat und pauschalisieren dann diese Kritik auf alle Personen, die nur annähernd mit dieser Gruppe oder Person in Berührung gekommen sind. 2. die Autoren zu schmähen, deren Werke Ibn Taymiyya bemängelt hat, weil sie teilweise unauthentische Aussagen beinhalten. Es ist also ersichtlich, dass wissenschaftlich und argumentativ differenzierte Vorgehensweisen Ibn Taymiyyas willkürlich benutzt/missbraucht werden, um die eigenen Gelüste und Neigungen zu stillen. Und wenn man damit negativen Gegenwind erfährt, dann tut man Ibn Taymiyya auch noch dieses Unrecht, indem man ihn bei denjenigen schmäht, gegen die man ihn eingesetzt hat. Wir bitten Allāh darum, dass Er der Jugend ein wenig mehr Respekt vor dem Wissen gibt und bitten Ihn, dem Erhabenen und Absoluten darum, Ibn Taymiyya und alle anderen Gelehrten davor zu schützen, durch die Einfältigkeit der ignoranten und sturköpfigen Menschen missbraucht und geschmäht zu werden. Möge Allāh die Gelehrten und all diejenigen, die das Wissen respektieren und weiter tragen, mit Seiner Gnade, Barmherzigkeit, Vergebung und dem Paradies belohnen. Āmīn.

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