Samstag, 13. August 2016

Die große Befreiung

An einigen Stellen in diesem Blog hab ich immer wieder darauf hingewiesen, dass wir oft in unseren eigenen Vorstellungen festhängen und uns dadurch eine individuelle Brille maßschneidern, mit der wir dann die Welt gemäß unserem Willen und unserer eigenen Vorstellung betrachten.

Dazu gehören aber auch alle Wertevorstellungen. Man kann jetzt einwenden und sagen, dass wir als Muslime doch den Islam als eine Quelle besitzen, aus der wir unsere Werte entnehmen und somit keine Uneinigkeit bei der Frage nach den Werten entstehen kann. Das ist zwar so als grundlegende Annahme richtig, aber praktisch neigen wir dennoch dazu, uns an bestimmte Vorstellungen festzubinden, und uns damit in einen Käfig zu sperren, bei dem wir zwar denken, dass wir uns an religiösen Werten orientieren würden, aber eigentlich unsere eigenen Vorstellungen maßgebend mit einbauen.

Um zu verdeutlichen, was ich meine, möchte ich euch einige Beispiele nennen, die ich und einige Brüder häufig erleben, wenn uns Fragen zum Islam gestellt werden:

Zwang-Vorstellungen: Das bedeutet, dass man eine Sache mit einer anderen Sache zwingend verbinden möchte. Häufig erleben wir dies, wenn Fragesteller ein Problem haben und schon selbst eine volle Diagnose ihres Problems gemacht haben und dann eine Lösung haben möchten.

Beispiele: Jemand hat Schmerz XYZ und denkt, dass das von Ǧinn kommt und möchte dann wissen, was man dagegen machen kann. Der Einwand: Warum denkt diese Person, dass sein Problem ausgerechnet was mit Ǧinn zu tun hat? Wieso hat er diese Vorstellung?

Oder allgemeiner: Jemand möchte eine Sache unbedingt machen/haben/erreichen weil er meint, dass er genau diese Sache braucht und dass das gut für ihn ist.

Hier erklärt sich eine Person schon selbst die Welt und die Probleme und ihre Ursachen. Ein Verhalten, bei dem man im Herzen kaum einen Raum offen lässt für eine andere Diagnose.

Dieses Verhalten kommt sehr oft vor. Man hat nämlich eine Vorstellung, an der man krampfhaft festhalten möchte. Wenn wir dann alternative Vorschläge machen, kommen dann oft auch Reaktionen, die andeuten, dass das nicht die Antwort ist, die man sich von uns gewünscht hätte.

Persönliche-Zwänge: Das sind Probleme, die nur auf der persönlichsten Ebene existieren. Ich habe dieses Problem bereits in Form von Liebeskummer erklärt, wobei man nicht von einer Vorstellung loslassen kann. Ein weiteres Beispiel ist, wenn zwei Personen verstritten sind und man sich schwertut, diesen Konflikt aus der Welt zu schaffen.

Wenn man sich nur ein wenig bemüht, aus sich selbst heraus zu treten und die Situation wie ein Außenstehender betrachtet, würde man erkennen, dass die Dramen, in die man sich zwingt, vollkommen überspitzte Szenarien sind.

Auf diesen beiden Zwängen baut alles Übel auf. Jede Übertreibung, jede Intoleranz und jede Maßlosigkeit baut darauf auf, dass man sich an eine Vorstellung klammert, die man wahrscheinlich von irgendjemanden oder von der gesamten Gesellschaft erzählt bekommen hat.

Wenn man sich von allen Vorstellungen dieser Art löst und alle eingetrichterten Vorstellungen überdenkt, kann man zu einem mündigen Menschen werden.

Mündig zu sein heißt, dass man bewusst denkt und handelt. Man tut und glaubt nichts, weil es einem so gesagt wurde, sondern weil man sich intensiv damit beschäftigt hat und das Vertrauen und das Bewusstsein entwickelt hat, um sagen zu können, dass man etwas tut oder denkt, worüber man wirklich Wissen besitzt.

Möchtest du uns damit sagen, dass wir den Gelehrten nicht folgen sollen? - Nein, das mag man als Hater vielleicht so rauslesen, aber mit meinem Text möchte ich dies nicht sagen. Gelehrten kann und sollte man vertrauen. Aber auch hier gilt: Vertraue einem Gelehrten nicht, weil man dir von seiner Vertrauenswürdigkeit erzählt hat, sondern informiere dich selbst über jede Person, von der du Wissen nimmst. Vergewissere dich, dass diese Person abgesehen von seinem Wissen auch Weisheit und Verständnis für die Menschen und ihre Umstände besitzt.

Wenn es um Werte und Vorstellungen geht, die durch unsere Religion gegeben werden, benötigt diese Befreiung natürlich Kenntnis und Wissen über die Grundlagen der Religion. Dazu muss man kein Gelehrter sein, sondern man muss wissen, wie man mit Wissen umzugehen hat. Es verbreiten sich nämlich oft solche Parolen wie "Wer der leichteren Meinung folgt, folgt seinen Gelüsten" und als Laie klingt das vielleicht plausibel und richtig. Aber damit man erkennt, dass solche Aussagen so an sich nicht der Wahrheit entsprechen, muss man sich bei jeder Belehrung in dieser Art fragen "Ist das wirklich so?"

Wir müssen uns befreien und dürfen uns nicht abhängig machen von anderen. Wir lieben und ehren die Gelehrten und nehmen Wissen von ihnen. Aber auch ihnen gegenüber dürfen wir nicht übertreiben. Diese Form der Übertreibung zeigt sich z. B. dadurch, dass man nicht akzeptieren möchte, wenn jemand einem Gelehrten nicht folgt, den wir persönlich sehr vertrauensvoll finden.

Diese Kerker, die keine Flexibilität bieten, engen uns ein und verhärten uns. Und der Teufel liebt es, wenn er Diener findet, die keinen Bewegungsfreiraum haben. Denn wer sich in seinem Verständnis nicht bewegen kann, der kann schnell in Bedrängnis und in Schwierigkeiten geraten. So kommt es oft dazu, dass diese Leute Einflüsterungen bekommen und darüber zweifeln, ob sie überhaupt noch Muslime sind, da sie nicht in der Lage sind, diese Einflüsterungen aufzuheben.

Wir müssen frei sein. Sachlich und objektiv. Die Emotionen und persönlichen Vorstellungen müssen in den Hintergrund treten. Erst dann werden wir der Wahrheit um einige Schritte näher kommen können.

"Begreifen sie nicht?" (Sūrah Yāsīn - Vers 68)


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